4. Der Kreis der Benutzer und mögliche Benutzerfragen

4.1. Vorbemerkungen

Wörterbücher sind eine Textsorte mit einer offensichtlichen kulturpädagogischen Funktion. Sie können diese um so besser erfüllen, je bewußter dem Lexikographen die intendierten Benutzungsmöglichkeiten des geplanten Werkes sind und je konsequenter er sie in der Gesamtkonzeption wie im Aufbau der Einzelartikel bis in deren Einzelpositionen hinein berücksichtigt. Dies sollte nicht nur reagierend, also in der Weise geschehen, daß vermutliche Typen von Benutzerfragen antizipiert werden und daß versucht wird, sie im Wörterbuchartikel zu beantworten. Eine sich auf solche Weise selbst beschränkende wissenschaftliche Handlung würde den Stand potentieller Benutzerfragen gleichsam festschreiben. Die Antizipation von Benutzungsmöglichkeiten sollte vielmehr zusätzlich eine aktive kulturpädagogische Komponente haben, dem Benutzer also Fragemöglichkeiten vor Augen führen, die seinen bisherigen Fragenhorizont in Richtung auf den jeweils modernsten lexikographischen Forschungsstand transzendieren.

4.2. Der Kreis der Benutzer

4.2.1. Als Benutzer des Wörterbuches kommen alle mit der Kultur des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit professionell oder sonst auf hoher Interessenebene Befaßten in Betracht. Dies sind nicht nur Sprach- und Literaturhistoriker, sondern ebenso Staaten-, Territorial-, Sozial-, Wirtschafts-, Rechts-, Verfassungshistoriker, Kirchengeschichtler, Theologen, Geisteshistoriker, Volkskundler sowie alle an der Geschichte der Naturwissenschaften (zum Beispiel der Medizin, Botanik, Zoologie, Agrarwissenschaft, Astronomie, Chemie, Physik), der Technik (zum Beispiel des Berg- und Hüttenwesens, der Metallverarbeitung) und der einzelnen Handwerke Interessierten, in gängigen Berufsbezeichnungen ausgedrückt: Wissenschaftler, Archivare, Lehrer des sekundären und tertiären Bildungsbereichs, Pfarrer, Schriftsteller, Kulturkritiker im weitesten Sinne, darunter Sprachkritiker und selbstverständlich Studenten aller historischen Fächer sowie einschlägig interessierte Autodidakten.

4.2.2. Die Tatsache, dass Sprach- und Literaturhistoriker nur eine von mehreren Adressatengruppen bilden, hat mindestens folgende hier schon ausgesprochene Konsequenzen:

(1) Jede Theorielastigkeit der sprachwissenschaftlichen und lexikographischen Fachsprache ist zu vermeiden; umgekehrt ausgedrückt: die Fachsprache wird zwar den Verdichtungsgrad haben müssen, der Wörterbüchern eigen ist; sie sollte aber stets zur allgemeinen Bildungssprache hin offen bleiben.

(2) Das Wörterbuch wird als Sprachwörterbuch natürlich vorwiegend sprachbezügliche Information bieten; aber die bekannte erkenntnistheoretische Schwierigkeit einer klaren Trennung von Sprache und Welt(-bild, -sicht, -gliederung o. ä.)1616. Hierzu zuletzt Wiegand, Herbert Ernst, Eine neue Auffassung der sog. lexikographischen Definition. In: Symposium on Lexicography II. Proceedings of the Second International Symposium on Lexicography May 16–17, 1984 at the University of Copenhagen. Ed. by Karl Hyldgaard-Jensen/Arne Zettersten. Tübingen 1985, 15–100. (Lexicographica. Series Maior 5). liefert einen willkommenen Grund, die sprachbezogene, insbesondere die semantische Information stets zur weltbezüglichen Information hin offen zu gestalten.

4.3. Mögliche Benutzungsanlässe und Benutzerfragen

Wörterbücher werden benutzt zur Behebung von Schwierigkeiten bei der Produktion von Texten, zur Behebung von Schwierigkeiten bei der Rezeption von Texten, aus kognitiven Gründen, die prinzipiell unabhängig von Produktions- und Rezeptionsschwierigkeiten sind, die sich aber de facto gerne mit letzteren verbinden, sowie aus Gründen sachlicher Information1717. Diese Benutzungstypologie verdankt sehr viel den Arbeiten von Herbert Ernst Wiegand, zuerst: Einige grundlegende semantisch-pragmatische Aspekte von Wörterbucheinträgen. Ein Beitrag zur praktischen Lexikologie. In: Kopenhagener Beiträge zur Germanistischen Linguistik 12, 1977, 59–149. Zuletzt: ders., Fragen zur Grammatik in Wörterbuchbenutzungsprotokollen. In: Lexikographie und Grammatik. Akten des Essener Kolloquiums zur Grammatik im Wörterbuch. 28.–30. 6. 1984. Hrsg. v. Henning Bergenholtz und Joachim Mugdan. Tübingen 1985, 20–98. (Lexicographica, Series Maior 3). – Vgl. auch (mit anderer Position): Kühn, Peter / Püschel, Ulrich, „Der Duden reicht mir“. Zum Gebrauch allgemeiner einsprachiger und spezieller Wörterbücher des Deutschen. In: Studien zur neuhochdeutschen Lexikographie II, 1982, 121–151.. Dementsprechend werden für das Frühneuhochdeutsche Wörterbuch die unter 4.3.1. bis 4.3.4. behandelten Benutzungsanlässe und daraus resultierenden Benutzerfragen angenommen.

4.3.1. Benutzung zur Behebung von Schwierigkeiten bei der Textproduktion

Angenommen sei, daß jemand, der in der Kulturvermittlung tätig ist, einen frühneuhochdeutschen Text in das heutige Deutsch transferiert. Er ist damit nicht nur Rezipient eines geschichtlichen Textes, sondern wird zum Produzenten eines eigenen (gegenwärtigen) Textes. Dabei fehlen ihm Wörter, die er im semasiologischen Wörterbuch nachschlagen wird, und zwar in den Bedeutungserläuterungen zu denjenigen Lemmata, die ihm die Translationsschwierigkeiten1818. Zur Terminologie sowie zur hier vorausgesetzten Translationsauffassung vgl. Vermeer, Hans J., Aufsätze zur Translationstheorie. Heidelberg 1983; nur ist statt Ausgangs- und Zielsprache Ausgangs- und Zielvarietät anzunehmen. bereiten. Dies ist sicher eine Standardsituation. Sie wird am häufigsten in der akademischen Lehre begegnen, ist aber keineswegs auf diesen Bereich beschränkt. – Zur Vermeidung von Mißverständnissen sei hinzugefügt, daß heute angefertigte Wörterbücher zu historischen Sprachstufen wie das hier geplante nur in einem besonderen Sinne als Produktionswörterbücher bezeichnet werden können; sie leisten Hilfestellung bei der Produktion von Texten derjenigen Sprache, der auch die lexikographische Beschreibungssprache zugehört, nicht natürlich zur Produktion historischer (also z. B. frühneuhochdeutscher) Texte. Diese letztere Tätigkeit kann es nur als philologisches Spiel geben.

4.3.1.1. Die soeben benutzten Ausdrücke transferieren und Translation sind Oberbegriffe mindestens über diejenigen kulturvermittelnden Einzelhandlungen1919. Zum Ausmaß und zu den Formen der Übersetzung/Übertragung altdeutscher Literatur seit dem 19. Jahrhundert: Krewitt, Ulrich, Probleme des Verstehens altdeutscher Texte und die Möglichkeiten ihrer Übersetzung ins Neuhochdeutsche. In: Sprachgeschichte 1, 1984, 780–792., die man als (sogenanntes vorlagengetreues) Übersetzen, als (freieres) Übertragen, als (nochmals freieres, zum Teil literarisches) Nachgestalten bezeichnet. Die Personen, die das eine tun, sind nicht dieselben wie diejenigen, die das andere tun. Übersetzen werden wohl hauptsächlich (aber sicher nicht ausschließlich) Studenten und ihre akademischen Lehrer, übertragen oder gar nachgestalten werden dagegen eher (aber wiederum nicht nur) Schriftsteller.

4.3.1.2. Differenzierend kommt hinzu, daß das oben angesprochene heutige Deutsch eine Gesamtheit von vielen, zum Teil recht unterschiedlichen Varietäten ist, daß dementsprechend die Zielvarietät der einzelnen Translationshandlungen wechselt: Übersetzt wird wohl in aller Regel in die Standardsprache, übertragen sicher auch in eine archaisierende Form des heutigen Deutschen, nachgestaltet wird zum Teil in experimenteller literarischer Sprache.

4.3.1.3. Bei all dem ist ‚Translation‘ als schreibsprachliche Handlung vorausgesetzt; sie vollzieht sich aber auch in gesprochenen Textsorten wie zum Beispiel in denjenigen Teilen von Predigten und Vorlesungen, in denen Textvorlagen erläuternd-paraphrasierend transferiert werden. Dies ist ein Sprechakt, den der sprachlich Handelnde unter anderem dadurch vorbereiten kann, daß er die im Wörterbuch angebotenen (partiellen) Äquivalente in die Erläuterung einzelner Textwörter einbezieht.

4.3.1.4. Will das Wörterbuch die insbesondere auf der lexikalischen Ebene der Sprache liegenden Schwierigkeiten bei der Produktion von Translationstexten beheben, so muß die Bedeutungserläuterung der einzelnen Wörter möglichst viele Synonyme und partielle Synonyme2020. Hier stellt sich die zeichentheoretische Frage, ob ein neuhochdeutsches Wort, das mit einem frühneuhochdeutschen bedeutungsgleich oder -verwandt ist, besser als Synonym oder als Heteronym bezeichnet wird. Ich (d. h. hier und weiterhin: der Bearbeiter, Oskar Reichmann) habe mich hier und im folgenden für Synonym entschieden, weil Frühneuhochdeutsch und Neuhochdeutsch Varietäten einer einzigen Sprache, nämlich des Deutschen, sind. enthalten, und zwar nicht ausschließlich solche der Standardsprache, sondern zum Beispiel auch solche veraltender und literatursprachlicher Varietäten des heutigen Deutschen. Bei der Entscheidung, was noch unter partielle Synonymie fällt, kann durchaus großzügig verfahren werden. Ein weiterer Grund für diese Entscheidung findet sich unter 21.2.2.3. – Die Forderung nach Angabe von Synonymen und partiellen Synonymen bedeutet nicht einen Verzicht auf andere, insbesondere auf phrastische Erläuterungstypen2121. Das sind Erläuterungen, die nicht nur aus einem Wort, sondern aus syntagmatischen Einheiten oberhalb der Wortebene bestehen., und sie besagt nicht, daß immer so verfahren werden kann.

4.3.2. Benutzung zur Behebung von Schwierigkeiten bei der Rezeption von Texten

Gemeinsame Voraussetzung für alle hier zu behandelnden Benutzungsanlässe und Benutzerfragen ist die Rezeptionssituation: Ein an Texten des späten Mittelalters oder der frühen Neuzeit Interessierter hat Verständnisschwierigkeiten bei deren Lektüre. Dabei ist ‚Verständnis‘ oberbegrifflich mindestens in doppeltem Sinne aufzufassen, einmal nämlich als pragmatisches und einmal als im engeren Sinne semantisches Verständnis. Der Lesende sucht seine Verständnisschwierigkeiten dadurch zu beheben, daß er im Wörterbuch diejenigen Wörter nachschlägt, die er offensichtlich überhaupt nicht versteht oder von denen er das Gefühl hat, sie unter bestimmten Aspekten, darunter auch Aspekten ihres Stellenwertes im Zusammenhang mit anderen Wörtern, nicht zu verstehen. In letzterem Falle kann sich die Befragung des Wörterbuches vom Anlaß, nämlich den textlichen Rezeptionsschwierigkeiten, lösen, und sich zu einer Einzeltexte transzendierenden kognitiven Orientierung ausweiten (vgl. dazu 4.3.3.).

4.3.2.1. Schwierigkeiten bei der Erfassung der Textpragmatik beruhen in aller Regel auf der Unkenntnis der sogenannten Symptomwerte sprachlicher Einheiten, insbesondere der Wörter. Hierzu erinnere man sich (vgl. oben 1.1.), daß das Frühneuhochdeutsche mindestens bis ins späte 15. Jahrhundert eine Sprache ohne eine sozial ausgezeichnete, als Norm fungierende Varietät war und damit einen im Vergleich zum Neuhochdeutschen sehr hohen Grad gerade der lexikalischen Variabilität aufwies. Für die gleichen (Klassen von) Sachen beziehungsweise Begriffe wurden dementsprechend außer einem bestimmten Grundstock an gemeinsamen Wörtern immer auch symptomfunktional markierte Ausdrücke verwendet, und zwar besonders in Abhängigkeit von der Geographie, der Zeit, der sozialen Schicht, der sozialen Gruppe und des Situationstyps, in denen ein Text entstand und/oder rezipiert wurde. Man muß annehmen, daß die zeitgenössischen Leser solche Bindungen erkannten, demnach eine Möglichkeit hatten, den Verfasser/Schreiber/Drucker des Textes räumlich, zeitlich, sozial, in seiner situativen Handlungsabsicht zu orten, den Textinhalt damit nicht nur auf der propositionalen Ebene als gleichsam geschichtslosen reinen Inhalt aufzufassen, sondern ihn in ein jeweils spezifisches kommunikationsgeschichtliches Kräftefeld zu stellen und so überhaupt erst seine Handlungsbedeutung (Illokution) zu erkennen. Für den heutigen Leser geschichtlicher Texte bietet die Kenntnis der Symptomwerte von Wörtern entsprechende Möglichkeiten: er kann den Text vor allem beim Fehlen von Verfasserangaben und sonstigen textgeschichtlich relevanten Zeugnissen nach den oben genannten Dimensionen einordnen, er kann zum Beispiel erkennen, daß er grob dialektal ist, daß er in eine bestimmte Zeit gehört, daß er bestimmten textlichen Traditionen und damit bestimmten Trägern zuzuschreiben ist. Dies alles ist unabdingbare Voraussetzung dafür zu verstehen, wie er kommunikativ gemeint war. Weite Teile der konventionellen und jeder vernünftigen zukünftigen Textphilologie, insbesondere der Editionsphilologie, waren mit der Bestimmung von Texten unter den genannten Aspekten beschäftigt und werden es weiterhin sein2222. Speziell zu diesem Aspekt: Reichmann, Oskar, Editionsprinzipien für deutsche Texte des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit. In: Sprachgeschichte 1, 1984, 693–703..

Will das Wörterbuch eine Hilfe bei der symptomfunktionalen Bestimmung von Texten bieten, so müssen seine Artikel eine Position aufweisen, in der die Symptomwerte von Wörtern erläutert werden können (man vgl. hierzu 13.).

4.3.2.2. Die Schwierigkeiten des Lesers beim Verständnis der Semantik des Textes können von unterschiedlicher Kompliziertheit sein.

(1) Sie sind sehr schnell zu beheben, wenn im Text ein dem Leser unbekanntes, auch aus dem Zusammenhang nicht verständlich werdendes monosemes Wort, zum Beispiel abblez, begegnet. Er schlägt es im Wörterbuch nach und findet die Bedeutungsangabe ›Stück Land‹, die ihm in vielen Fällen als Information ausreicht. Eine sogenannte Wortlücke2323. Terminus von H. E. Wiegand 1977 [vgl. Anm. 17], S. 65, ebenso wie Wortbedeutungslücke. ist behoben.

(2) Relativ schnell sind auch Wortbedeutungslücken zu beheben. Sie liegen immer dann vor, wenn dem Leser bei der Lektüre eines Textes ein Wort begegnet, das ihm als Wort zwar geläufig ist, dessen Verwendung im Text ihn aber vermuten läßt, daß er mindestens eine seiner Bedeutungen nicht kennt. Am Beispiel verdeutlicht: In bergbaugeschichtlichen Texten kommt immer wieder das Wort abenteuer vor. Es kann nach dem Textverständnis des Lesers nicht die bekannteren Bedeutungen von abenteuer haben, also zum Beispiel nicht ›ritterliche Bewährungsprobe‹ oder ›Erzählung, Geschichte‹, sondern muß in einer ihm bisher nicht geläufigen Weise verwendet worden sein. Beim Nachschlagen findet er unter Ziffer 15 die Bedeutungsangabe ›Bergschatz‹, die ihm zusammen mit der Angabe bergbaugeschichtliche Texte und der Nennung bedeutungsverwandter Wörter (darunter gestein) die Sicherheit gibt, daß sie von allen dem Wort abenteuer zugeschriebenen Bedeutungen die für den gelesenen Text zutreffende nennt.

(3) Vom Vorliegen einer Wortbedeutungslücke zu unterscheiden sind all diejenigen Fälle, in denen der Leser zwar das Wort und dessen im Text gültige Bedeutung „irgendwie“ kennt, aber dennoch das Gefühl hat, einen bestimmten Bedeutungsaspekt nicht zu erfassen. Diese Situation sei wieder am Beispiel erläutert: Angenommen wird, das Wort arbeit sei als Wort ohne jeden Zweifel in seiner Bedeutung ›berufliche Tätigkeit‹ „irgendwie“ bekannt. Dennoch geben einige im Text über ‚arbeit‘ gemachte Aussagen, einige mit arbeit vorgenommenen Bezugnahmen auf Handlungen der sozialen Realität dem Leser zu der Vermutung Anlaß, die im Text begegnende Verwendungsweise entspreche nicht vollständig derjenigen, die er bisher immer von arbeit vorausgesetzt hat. Er schlägt mit der Absicht der Klärung sowie der Vergewisserung2424. Kühn, Peter, Sprachkritik und Wörterbuchbenutzung. In: Studien zur neuhochdeutschen Lexikographie III, 1983, 157–177; hier: S. 161. im Wörterbuch nach und findet folgende Bedeutungserläuterung:

›anstrengende Tätigkeit insbesondere zum Erwerb des Lebensunterhaltes, berufliche, in der Regel körperliche Arbeit auf allen Gebieten (zum Beispiel im Weinberg, beim Feldbau, im Bergbau, in städtischen Gewerben)‹, mit offenem Übergang zu ›Erwerbstätigkeit zur Erzielung von Gewinn‹, darunter auch zu ›Handel‹, vereinzelt (bes. gegen Ende der Epoche) ›mühevolles geistiges Schaffen, psychische Anspannung zur Erreichung eines Zieles‹; auch: ›Arbeit von Tieren‹.

Diese Angabe bestätigt zunächst seine „Irgendwie“-Kenntnis der in Zweifel stehenden Bedeutung, vergewissert den Nachschlagenden also, auf dem richtigen Wege zu sein; sie füllt die in dem irgendwie greifbar werdende Kenntnislücke aber durch eine ganze Anzahl von zusammenhängend zu sehenden Schattierungen (in diesem Falle Nuancierungen und Differenzierungen) gleichsam klärend auf; durch Informationen übrigens, die wegen ihres Gewichtes noch einmal zusätzlich durch semantische Kommentare des Lexikographen herausgehoben und ergänzt werden:

„Die Bedeutung gilt teils im neutralen Sinne (dann besonders für ›berufliche Arbeit‹ vor allem der unteren Schichten), teils mit positiver ethischer Wertung als Gegensatz vorwiegend zu Müßiggang und Lasterhaftigkeit.“

(4) Bei detaillierter Textanalyse, wie sie zum Beispiel in der literaturgeschichtlichen Kennwortforschung oder in begriffsgeschichtlichen Untersuchungen üblich ist, kann es vorkommen, daß die Information über Bedeutungsschattierungen der am Beispiel arbeit erläuterten Art dennoch als für den Grad des Textverständnisses unzureichend empfunden wird, der zur Behandlung der gestellten diffizilen Aufgaben notwendig ist. Angenommen sei folgender Fall: Ein an einem Kennwort eines bestimmten Textes oder einer Textgruppe Interessierter hat sich durch Einsicht in ein Wörterbuch informiert, was das Kennwort in der langue der Zeit genau bedeutet. Er weiß aber damit noch nicht, ob der spätmittelalterliche Autor, der es verwendet, auf den gemeinten Sachverhalt nicht auch mit einem allgemeineren, mit einem spezifischeren, mit einem in besonderer Weise nuancierten, eventuell aus dem Gegensatz heraus mit einem Antonym oder Komplenym2525. Antonyme und Komplenyme sind die zwei Haupttypen des Gegensatzwortes, vgl. 14.1., Punkt (9). hätte Bezug nehmen können, und er weiß natürlich erst recht nicht, mittels welcher Wörter dies hätte geschehen können. Zum (semantischen) Textverständnis in einem anspruchsvollen Sinne des Wortes gehört aber genau dies dazu, da damit der seit den Arbeiten Jost Triers nicht mehr aus der Diskussion verschwundene Stellenwert des Wortes in seinen allerdings nicht nur onomasiologischen, sondern überhaupt in seinen sprachlichen Zusammenhängen angesprochen ist2626. Trier, Jost, Aufsätze und Vorträge zur Wortfeldtheorie.. (Natürlich ist damit nur der wortsemantische Teil des semantischen Textverständnisses, nicht schon das pragmatische Verständnis des Textes als Teil einer Kommunikationsgeschichte angesprochen. Ersteres ist aber eine der Voraussetzungen für Letzteres).

Aus all dem ergibt sich folgende Forderung an das Wörterbuch: Es hat die Bedeutungen der aufgeführten Wörter inhaltlich detailliert zu erläutern; und es hat die Bedeutungen mindestens in ihren semasiologischen und onomasiologischen Zusammenhang sowie in den Kontrast zu Gegensatzwörtern zu stellen. Nur wenn dies geschieht, kann es als Forschungsinstrument für Fragen herangezogen werden, die sich wie die beispielhaft genannten zwar aus der Textanalyse ergeben können, deren Klärung aber oft nur das Vorfeld einer Einzeltexte transzendierenden kognitiven Orientierung bildet.

4.3.3. Benutzung in texttranszendierender Forschung

Benutzungsanlässe dieser Art begegnen in zwei zumindest analytisch, weitgehend auch von der Praxis her voneinander zu unterscheidenden Typen geisteswissenschaftlicher Arbeit, einmal nämlich der eher vergangenheitsbezogenen und zum anderen der eher gegenwartsbezogenen Arbeit.

4.3.3.1. Den vorwiegend vergangenheitsbezogenen geisteswissenschaftlichen Bemühungen geht es um die vordergründig wertfreie Erkenntnis geschichtlicher Verhältnisse; Bezugsetzungen der Ergebnisse solcher Erkenntnis auf Probleme der Gegenwart erfolgen zwar fortlaufend, sind aber dennoch sekundär: Es gibt weite Teilbereiche der Geisteswissenschaften, die ihre Aufgabe in der Erforschung der Vergangenheit sehen und diese Tätigkeit mit Recht als Bildungsarbeit auffassen. Gedacht ist insbesondere an folgende Disziplinen:2727. Genaueres dazu mit Literaturangaben zu den meisten im folgenden genannten Stichwörtern bei Reichmann, Oskar, Historische Lexikologie. In: Sprachgeschichte 1, 1984, 440–460.

  • alle Sparten der von der Sprachwissenschaft betriebenen historischen Wortforschung
  • die literaturwissenschaftliche Kennwortforschung (zum Beispiel zu mittelhochdeutsch arbeit, aventiure, vröude, saelde, trûren, milte, triuwe, riter, glück)
  • die literaturwissenschaftliche Erforschung zentraler Begriffe poetischer Fiktionen und Fiktionstraditionen (zum Beispiel von ‚Humanität‘, ‚Melancholie‘, ‚Mitleid‘)
  • die insbesondere von der Geschichtswissenschaft betriebene ideen-, begriffs-, ideologiegeschichtliche Forschung (zum Beispiel zu ‚Staat‘, ‚Emanzipation‘, ‚Öffentlichkeit‘, ‚Bürger‘)
  • die theologische Erforschung von Kernbegriffen kirchlicher Dogmatik (zum Beispiel von ‚Rechtfertigung‘, ‚Gnade‘, ‚Erlösung‘) und solchen der religiösen Volkskultur.

4.3.3.2. Der eher gegenwartsbezogenen geisteswissenschaftlichen Arbeit geht es um die Projektion geschichtlicher Verhältnisse auf solche der Gegenwart, und zwar in aller Regel weniger des wertfreien Vergleichs halber als aus kulturpädagogischen Absichten: Die Gegenwart soll durch verfremdende Konfrontation mit der Vergangenheit in ihrer geschichtlichen Gewordenheit bewußt gemacht werden. Die dadurch vermittelte Sicht der Gegenwart als Teil der Geschichte schafft Dispositionen für begründete Traditionspflege und für begründete traditionsgebundene Veränderungen. Diese Argumentationslinie ist der Hintergrund dafür, daß von den oben genannten vergangenheitsbezogenen Disziplinen der Geschichtsforschung mindestens die historische Wortforschung, die ideen-, begriffs- und ideologiegeschichtliche Forschung sowie die dogmengeschichtliche Forschung gleichsam eine Anwendungskomponente haben. Deren institutioneller Rahmen sind nicht mehr die wissenschaftlichen Einrichtungen von Universitäten und Akademien, sondern die Kulturinstanzen, darunter vor allem die höhere Schule, die Kultusministerien, die Kirche, alle sonstigen normensetzenden und -vermittelnden Institutionen der Gesellschaft. Man wird hierbei zu beachten haben, daß nicht ausschließlich Inhalte in einem jeweils besonderen Sinne aus der Tradition begründet werden. Auch Formalia, wie zum Beispiel die historische Begründung der Rechtschreibung einschließlich des literarischen und werbesprachlichen Experimentierens mit ihr oder ihres agitativen Gebrauchs mittels Normabweichungen, gehören in diesen Rahmen.

4.3.3.3. Unabhängig davon, ob die jeweilige geschichtliche Forschung eher vergangenheitsbezogen oder eher gegenwartsbezogen erfolgt, hat sie sprachwissenschaftliche Voraussetzungen. Wie immer man Begriffe, Ideen, Ideologeme, in Lehrmeinungen angesetzte Entitäten usw. auch sieht, sie sind in erster Linie sprachlich vermittelt, lassen sich also methodisch nur über sprachwissenschaftliche, vor allem über semantische Beschreibungen ermitteln. Dies ist ein von der jeweiligen Zeichentheorie unabhängiges Faktum.

4.3.3.4. Will das Wörterbuch Forschungsinstrument für die in der beschriebenen Weise texttranszendierenden Forschungsrichtungen einer im weitesten Sinne verstandenen Traditionsforschung sein, dann wird die oben erhobene Forderung erst voll verständlich, daß es alle Wortbedeutungen in einen semasiologischen und onomasiologischen Rahmen sowie in den Kontrast zu Gegensatzwörtern zu stellen hat. – Speziell für die gegenwartsbezogene Komponente geschichtlicher Forschung würde es eine entscheidende Hilfe bedeuten, wenn zusätzlich zu einer onomasiologischen Informationsposition, die in die semasiologische Anlage des Artikels eingehängt wird, eine onomasiologische Aufbereitung von den in neuhochdeutscher Beschreibungssprache gefaßten Bedeutungserläuterungen her erfolgen würde. Gerade der auf die Gegenwart hin orientierte Benutzer will ja weniger wissen, welche Wörter ein Autor des Frühneuhochdeutschen für ein in einem Text begegnendes Wort außer diesem Wort noch hatte (dazu vgl. 14.1.); sondern er will vor allem eine Antwort auf die gegenwartskontrastiv, -verfremdend o. ä. gemeinte textlektüreunabhängige Frage haben: Mit welchen Wörtern nahm man im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit auf einen gerade interessierenden Begriff, zum Beispiel auf ‚Berufstätigkeit‘, bezug? Oder gab es für den vorausgesetzten Begriff überhaupt keine Ausdrucksmöglichkeit mit lexikalischen Mitteln? Näheres dazu unter 21.2.

4.3.4. Benutzung zur Sachinformation

Unabhängig davon, ob ein Wörterbuch auf Grund von Problemen bei der Textproduktion, bei der Textrezeption oder anläßlich texttranszendierender Forschung eingesehen wird, ist ein weiterer Benutzungsanlaß, nämlich der Wunsch nach sachlicher Information. Hier soll selbstverständlich nicht einer Vermischung von Sprach- und Sachlexikographie das Wort geredet, sondern nur die lexikographische Konsequenz aus dem offensichtlichen Faktum gezogen werden, daß kein Text- und Sprachverständnis ohne vorgängiges Weltwissen und kein (vor allem historisches) Weltwissen ohne vorgängige Text- und Sprachkenntnis möglich ist. Dementsprechend hat das Wörterbuch mindestens diejenige weltbezügliche Information zu liefern, die Voraussetzung zur Produktion von (Translations)texten, zum Verständnis von Texten und zu texttranszendenter, aber auf Textstudium gründender Erkenntnis ist.