1. Die geschichtliche Bedeutung des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit für die Gegenwart: einige skizzenhafte Bemerkungen

Das späte Mittelalter und die frühe Neuzeit sind Epochen der deutschen Geschichte, die der Neuzeit nicht nur im rein zeitlichen Sinne vorausgehen, sondern in denen auch entscheidende geistige und sozialökonomische Voraussetzungen der neuzeitlichen bis hin zur gegenwärtigen Kultur gelegt wurden.

1.1. Speziell in der Sprachgeschichte verlor das in den Lachmannschen Textausgaben als klassisches Mittelhochdeutsch übersteigert nachgezeichnete, aber auch in der Sprachbewertung des 13. und noch des 14. Jahrhunderts als solches anerkannte Ideal der höfischen Sprache mit dem Niedergang des hochmittelalterlichen Kaisertums sehr rasch an faktischer, im 14. Jahrhundert auch an ideologischer Geltung. Ihm folgte das sogenannte Frühneuhochdeutsche, eine historische Stufe des Deutschen, der zumindest bis ins dritte Viertel des 15. Jahrhunderts eine als herausgehoben anerkannte Varietät fehlte, deren Existenzform im Gegensatz zum vorausgehenden Mittelhochdeutschen und eher in geschichtlicher Parallele zum Althochdeutschen mithin ein Gesamt von nahezu gleichberechtigt nebeneinander stehenden Dialekten, landschaftlichen Schreibsprachen, seit 1450/60 auch Druckersprachen, von Soziolekten, Fachsprachen, Registern aller Art ist. Im späten 15., beschleunigt im 16. Jahrhundert, erfährt das horizontale Nebeneinander all dieser Varietäten eine Vertikalisierung; je nach sprachgeschichtlichem Urteil ist bereits für die erste Hälfte des 16. Jahrhunderts, spätestens für die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts eine neue, nicht in der räumlichen, sozialen, textgeschichtlichen Tradition des Mittelhochdeutschen stehende Leitvarietät anzusetzen, die unabhängig davon, ob man sie als neuhochdeutsche Schriftsprache, als Gemeinsprache, Hochsprache, Kultursprache oder als Nationalsprache bezeichnet11. Zu den Termini zuletzt: Besch, Werner, Dialekt, Schreibdialekt, Schriftsprache, Standardsprache. Exemplarische Skizze ihrer historischen Ausprägung im Deutschen. In: Dialektologie 2, 1982, 961–991. – Die hier und im folgenden erwähnte Literatur wird dann in verkürzter Form zitiert, wenn sie im Verzeichnis der Sekundärliteratur angegeben ist., in das Standarddeutsch der Gegenwart mündet (vgl. auch 5.1.).

1.2. Für andere Kulturbereiche gilt Entsprechendes: Die Reformation z. B., obwohl von Luther eher als Reform kirchlich-religiöser Verhältnisse wie als Gründung einer Konfession gemeint, erwies sich dennoch schon in ihren Anfangsjahren als Neubeginn, der in den erstarrten Formen der religiösen Organisation zumindest in groben Zügen noch die Religiosität der Gegenwart bestimmt. – In der Geschichte der Philosophie war der Reformation der allmähliche Umschlag vom (bis zu Wilhelm von Occam dominanten) Realismus in den Nominalismus vorausgegangen, womit die Einzeldinge, darunter vor allem der Mensch als Individuum und die einzelnen Fähigkeiten des Menschen, eine dem Mittelalter weitgehend fremde Aufwertung erfuhren und so außer und mit der Reformation gleicherweise die Aufklärung wie die Formen des Gefühlskultes einschließlich religiösen Schwärmertums ermöglichten. – Im sozialen Bereich entwickelte sich seit dem 14. Jahrhundert bis in die Zeit des Absolutismus hinein eine Form städtischer Kultur, an die im späten 18. Jahrhundert trotz aller durch den fürstlichen Obrigkeitsstaat bedingten Verwerfungen zumindest partiell wieder angeknüpft werden konnte. – In der Wirtschaftsgeschichte entstehen seit dem 15. Jahrhundert als Frühkapitalismus etikettierte Formen der Arbeitsteilung, parallel dazu der Handelsorganisation sowie eines schon fast modernen Bankwesens, deren historische Fortsetzung bis in die Gegenwart offensichtlich ist. – Erst recht im Hinblick auf die Geschichte der Wissenschaften und der Technik läßt sich eine ungebrochene Entwicklungslinie zwischen dem beginnenden Erfindungs- und Entdeckungszeitraum des 14. und 15. Jahrhunderts bis zur Gegenwart hin beobachten.

1.3. All diese geschichtlichen Vorgänge sind in dem kanonisierten Textsortenspektrum der Blütezeit des Mittelhochdeutschen nicht mehr formulierbar, umgekehrt ausgedrückt: Bereits im beginnenden Frühneuhochdeutschen entsteht ein Textsortensystem, das eher durch die Vielfalt seiner Intentionen, nämlich z. B. zu informieren, anzuleiten, zu unterhalten, zu erbauen, zu legitimieren, zu integrieren wie auch zu agitieren, als durch die Orientierungen religiöser oder religiös motivierter Didaktik gekennzeichnet ist und das insofern eher das Neuhochdeutsche vorbereitet als das Mittelhochdeutsche abschließt.