11. Positionen des Wörterbuchartikels. IV: Hinweise zur Etymologie

11.1. Das Frühneuhochdeutsche Wörterbuch ist als synchrones Bedeutungswörterbuch über ein historisches Sprachstadium konzipiert. Die Etymologie hat in einer solchen Konzeption mit einer Anzahl ihrer Anliegen7777. Vgl. dazu Seebold, Elmar, Etymologie. – Ders. speziell für die Lexikographie: Die Erläuterung der Etymologie in den Wörterbüchern der deutschen Gegenwartssprache. In: Studien zur neuhochdeutschen Lexikographie II, 1982, 188–223. keinen Platz, wie ja auch keine der im Kapitel 4.3. aufgeführten Benutzerfragen auf die Etymologie zielte. Lediglich dasjenige an der Etymologie, was der Identifizierung eines Wortes dient, gehört zum Beschreibungsbereich des Wörterbuches und zum Interessenbereich seiner Benutzer, und zwar nicht als ausdrucksseitige Gegebenheit, sondern ausschließlich deshalb, weil jede Wortidentifizierung nur über eine semantische (als eine zum Gegenstand des Bedeutungswörterbuches gehörige) Identifizierung möglich ist. Dabei ist semantische Identifizierung zu verstehen als Zuordnung einer etymologisch fraglichen sprachlichen Einheit zu einer lingual bekannten oder wissenschaftlich nachgewiesenen Wortfamilie aufgrund erkannter Bedeutungsbeziehungen bzw. sich in der Zuordnungshandlung ergebender plausibler Bedeutungsassoziationen.

11.2. Die Wortidentifizierung stellt sich nun aber für die große Mehrzahl der Wörter gar nicht als Aufgabe. Viele Erbwörter sind nämlich zu lexikalischen Einheiten der neuhochdeutschen Standardsprache und des Mittelhochdeutschen, viele Fremdwörter zu Einheiten des Lateinischen oder einer anderen dem vorausgesetzten Benutzer bekannten Fremdsprache ohne Schwierigkeiten in Bezug zu setzen. Für Lehnwörter und die Gruppe der Internationalismen unter den Fremdwörtern ist oft sogar eine mehrfache Zuordnungsmöglichkeit gegeben. Dementsprechend wird in all den Fällen, in denen die Wortidentifizierung sich ohnehin aus dem Sprachwissen des Wörterbuchbenutzers ergeben dürfte, denn auch auf etymologische Hinweise verzichtet, vgl. abend, abenteuer, abfaren, abgrund, abholz usw.

11.3. Kehrt man das Vorgetragene um, so ergibt sich eine Verfahrensregel, in welchen Fällen Hinweise auf die Etymologie angebracht und wie ausführlich sie gestaltet werden sollten.

Etymologische Hinweise stehen danach

(1) für Fremdwörter, die nicht einer der bekannteren Fremdsprachen (Latein, Griechisch, Italienisch, Französisch, Niederländisch, Englisch) entstammen (vgl. abatuch, abba),

(2) für Fremdwörter, die zwar einer dieser Fremdsprachen entstammen, aber auf ein dialektales oder ein aus anderen Gründen unbekanntes Wort dieser Sprachen zurückgehen oder aber bei der Übernahme eine so starke Umgestaltung erfahren haben, daß ihre genaue fremdsprachige Grundlage nicht mehr auf Anhieb erkennbar ist (vgl. abeit),

(3) für diejenigen Erbwörter, die schon für das Frühneuhochdeutsche etymologisch isoliert sind (vor allem Archaismen und Dialektismen) oder aber die deshalb als isoliert erscheinen, weil der vorausgesetzte Wörterbuchbenutzer sie nach der Einschätzung des Lexikographen nicht auf Anhieb einem allgemein bekannten Wort der nhd. Standardsprache zuordnen kann (vgl. abbleuen, abblez, abbresten, abbrossen, 1abdäuen, 2abdäuen, abdreuen, abfechsnen, abfläuen, abgarten, abgreislich, abgüzlicht, abheilichen, äbisch),

(4) für Homonyme, unabhängig davon, ob sie Erbwörter (vgl. 1abdäuen / _2abdäuen,_ 1abkeren / _2abkeren,_ 1abreinigen / _2abreinigen,_ 1abreiten / _2abreiten) oder ob sie Fremdwörter (vgl. 2a / 3a_) sind,

(5) für Lehnwörter, die eine oder mehrere der unter (1) bis (4) für Fremd- und Erbwörter genannten Bedingungen erfüllen (vgl. abbossieren).

11.4. Obwohl versucht wurde, Hinweise auf die Etymologie immer dann anzubringen, wenn sie nach den genannten Kriterien als notwendig erachtet wurden, blieb den Bearbeitern eine Anzahl von Wörtern etymologisch undurchsichtig. Das hat die Position Hinweise zur Etymologie transzendierende Folgen, vor allem für den Ansatz des Lemmas. Bei der Varianz des frühneuhochdeutschen Laut- und Schreibsystems ist der Lexikograph im Extremfall nämlich geradezu blind unter dem Aspekt, wie die graphische Vorkommensform insgesamt und Graph für Graph in eine ausgezeichnete Form umgesetzt werden kann. Dies ist eine Handlung, die letztlich nur auf der Basis etymologischer Bezugsetzungen möglich ist. Wie sollte man sonst z. B. die Vorkommensform abprachern lemmatisieren? Ist die Graphenfolge -bp- wirklich als ab/prachern zu segmentieren? Oder ist sie als Kompromißform des Typs bp, dt, gk, ngk aufzufassen, so daß abp/rachern zu lesen wäre? Falls denn doch wohl das erstere plausibler ist, wie ist der indirekte Anlaut umzusetzen, als b(r) oder als p(r)? Wie ist a zu verstehen, als etymologisches a oder als mitteldeutsch aus e gesenktes a oder als durch Hyperkorrektur aus o entstandenes a? Auch eine graphematische Untersuchung des gesamten Textes bietet hier keine letzte Sicherheit (wohl natürlich Orientierungen); sie würde überdies jeden lexikographischen Rahmen sprengen. – Immer dann, wenn die Lemmatisierung wegen fehlender etymologischer Zuordnungsmöglichkeit des Wortes in Frage stand, wurde der Lemmaansatz mit einem Fragezeichen versehen, vgl. abprachern (?). Dieses Fragezeichen ist also, obwohl es unmittelbar nach dem Lemma steht, auch im Zusammenhang mit der Etymologie zu sehen, eben als Feststellung, daß das Wort (vom Bearbeiter) etymologisch keiner Wortfamilie zugeordnet werden konnte.

11.5. Die gegebenen etymologischen Hinweise sind äußerst knapp gehalten.

11.5.1. Ihrer Rolle für die Identifizierung eines Wortes entsprechend werden für Fremdwörter (nach Bedarf auch für Lehnwörter) maximal die entlehnende Sprache (z. B. frz.), die fremdsprachige Vorlage (z. B. habit), in Klammern deren fremdsprachige Vorlage (hier: lat. habitus) und die fremdsprachige Bedeutung (hier: ›Aussehen, Kleidung, Tracht‹) genannt. Dadurch entsteht folgendes Beschreibungsmuster:

abeit [...] aus frz. habit (aus lat. habitus ›Aussehen, Kleidung, Tracht‹).

Dieses Muster kann je nach Notwendigkeiten und vorausgesetzten Kenntnissen des Wörterbuchbenutzers in verkürzter Form erscheinen: Die genaue fremdsprachige Vorlage entfällt z. B. immer dann, wenn sie einer dem Bearbeiter völlig unbekannten Sprache und Schrift (z. B. Aramäisch, vgl. abba) entstammt. Falls die Entlehnung nicht über Zwischenstufen erfolgt ist, entfällt selbstverständlich auch eine darauf bezügliche Angabe, und falls die Bedeutung der fremdsprachigen Vorlage derjenigen des frühneuhochdeutschen Wortes voll entspricht, wird sogar diese überflüssig. – Auch eine Auffüllung des Musters ist möglich, wenn dies geboten erscheint, man vgl.

2abzucht [...]; aus lat. aquaeductus, aber im Frnhd. etymologisch undurchsichtig, deshalb starke Deformation der Form; als Gegentendenz dazu volksetymologische Formgebung, nach der die zweite Silbe überwiegend zu -zucht, die erste tendenziell zu ab- wird. Lautliche und morphologische Angleichung an 1abzucht ist wahrscheinlich.

Entscheidend für das Muster (da im Gegensatz zu den für Erbwörter gebrauchten Mustern stehend) ist die beschreibungssprachliche Partikel aus. Sie besagt, daß ein bestimmtes Wort (z. B. frnhd. abeit) aus einer genau bezeichneten Vorlage (hier: frz. habit) in das Deutsche entlehnt wurde.

11.5.2. Für Erbwörter besteht der etymologische Hinweis aus einer mit der Partikel zu eingeleiteten Zuordnung des zu identifizierenden Wortes zu einem (oder mehreren) dem Wörterbuchbenutzer vorausgesetzter Weise bekannten Wort oder zu einem wissenschaftlich nachgewiesenen Wort. Dies kann dem Mittelhochdeutschen, der neuhochdeutschen Standardsprache, einer sonstigen, oft einer dialektalen Varietät des Neuhochdeutschen oder aber einer germanischen, meist der niederländischen Nachbarsprache entstammen. Zusätzlich zu dem Wort wird dessen Bedeutung in kürzest möglicher Form angegeben sowie in Klammern ein Nachweis über eine lexikographische Kodifikation oder über eine sonstige linguistische Beschreibung geliefert. Das Muster hat also folgende Basisform:

abbrossen [...]; zu mhd. broz ›Trieb, Sproß‹ (DWB 2, 399; v. Bahder, Wortwahl. 1925, 129; Lexer 1, 361).

Sie ist wie folgt zu lesen: Das (vermutlich dem Wörterbuchbenutzer nicht bekannte und nur deshalb etymologisch identifizierte) Wort abbrossen gehört (mit dem überhaupt in Betracht kommenden Bestandteil -brossen) zur gleichen Wortfamilie wie mhd. broz mit der Bedeutung ›Trieb, Sproß‹, das in der in Klammern angegebenen Literatur am exaktesten nachgewiesen und/oder beschrieben ist. Selbstverständlich kann das Muster wieder je nach Notwendigkeiten variiert, eingeengt und erweitert werden.

11.6. Die Hinweise zur Etymologie stehen durch ein Semikolon abgetrennt hinter der Wortangabe bzw. den Angaben zur Morphologie. Sie überlappen sich manchmal mit Angaben zur Wortbildung (vgl. 16.1.1.), die ebenfalls im Artikelkopf stehen können, in der Mehrzahl aller Fälle aber einen anderen Platz haben.