12. Positionen des Wörterbuchartikels. V: die Erläuterung der Bedeutung

Die hier als Erläuterung der Bedeutung eines Wortes bezeichnete wissenschaftliche Handlung ist ohne Zweifel das Kernstück bedeutungslexikographischer Arbeit. Ihr Ergebnis bestimmt jedes Bedeutungswörterbuch und jeden seiner Artikel in konstitutiver Weise; sie ist deshalb auch an dieser Stelle ausführlich zu beschreiben. Dies soll unter folgenden Aspekten geschehen: Aufbau der Erläuterung (12.1.), ihre graphische Gestaltung im Druckbild (12.2.), ihre Funktion (12.3.), ihre Typen und fachsprachliche Form (12.4.), ihre Struktur (12.5.), Anzahl (12.6.) und artikelinterne Ordnung (12.7.) der Einzelbedeutungen.

12.1. Der Aufbau der Bedeutungserläuterung

So wie die Gesamtbedeutung eines Wortes als aus einer (Monosemie) oder mehreren (Polysemie) Einzelbedeutungen bestehend aufgefaßt werden kann, so besteht die Bedeutungserläuterung aus einer oder mehreren Erläuterungspositionen; sie besteht ferner aus einem oder mehreren Erläuterungsteilen. Beide Gegebenheiten können sich überschneiden: Eine einzige Erläuterungsposition kann sich aus mehreren Erläuterungsteilen zusammensetzen, und ein einziger Erläuterungsteil kann sich auf mehrere Erläuterungspositionen beziehen.

12.1.1. Die Anzahl der Erläuterungspositionen ergibt sich aus der Anzahl der zu erläuternden Bedeutungen; bei monosemen Wörtern kann per definitionem nur eine einzige Position vorkommen, vgl.

abbeschwören [...] ›jm. etw. durch Eid abgewinnen‹.

Bei polysemen Wörtern gibt es deren notwendigerweise mehrere, eben genau so viele, wie Bedeutungen angesetzt werden, vgl. in verkürzter Schreibweise:

abbruch [...]

  1. ›Abfall von Materialien (z. B. von Holz)‹ [...].
  2. ›Verlust, Schaden (vor allem militärischer Art)‹ [...].
  3. ›Entzug, Wegnahme [...] von etw., das jm. zusteht, Nachteil, Schädigung, Schaden‹ [...].
  4. ›Enthaltsamkeit, Mäßigung, Enthaltung von natürlichen Bedürfnissen‹ [...].
  5. [usw. bis zur laufenden Nummer 9].

12.1.2. Zu den Erläuterungsteilen gehört im engsten Sinne die Bedeutungsangabe; in einem weiteren Sinne gehören dazu: Angaben zum sachlichen Bezugsbereich, Wortbildungserläuterungen, kulturgeschichtliche Erläuterungen, in einem nochmals weiteren Sinne die Hinweise zur Etymologie, semantische Kommentare, letztlich auch die Angaben zum onomasiologischen Feld und zur syntagmatischen Verwendung sowie die Aufführung der Belege. In geometrischer Veranschaulichung würde sich ein Bild von konzentrisch umeinander gelagerten Kreisen ergeben; der durch den innersten Kreis symbolisierte Erläuterungsteil beträfe ausschließlich die Bedeutung des Wortes; alle darum herumgelagerten Kreise würden Erläuterungsteile veranschaulichen, die die Bedeutung mit abnehmender Direktheit jeweils unter Einzelaspekten wie dem ihrer Wortbildungsvernetzung, ihrer onomasiologischen Vernetzung oder ihrer Syntagmatik betreffen. Entscheidend bleibt aber, daß in einem Bedeutungswörterbuch letztlich alle Artikelinformation im Dienste der Bedeutungserläuterung steht. Die einzelnen Informationstypen integrieren sich zu einem Gesamtbild, das die Bedeutungsangabe als den zentralen Teil der Bedeutungserläuterung aspektuell ergänzt und im Extremfall sogar ersetzen kann.

12.1.2.1. Die einzelnen Erläuterungsteile sind immer dann auf eine einzige Erläuterungsposition bezogen, wenn sie eine Einzelbedeutung (i. Ggs. zu: Gesamtbedeutung) betreffen, vgl.

abenteurer [...] 2. ›herumziehender Unterhaltungskünstler, Gaukler, Possenreißer, Trickkünstler‹ [1], meist negativ gewertet, deshalb auch [2] ›Schwindler, Gauner‹ [1]; falls die angewendeten Tricks sprachlicher Art sind [2]: ›Lügenbold, Sprücheklopfer‹ [1]; vgl. abenteuer 7 und 9 [3] [...]. – Bdv.: gaukler, nar, sprecher, schwätzer, zauberer [4] – Synt.: ein a. sein; a. kommen (her)/unterwinden sich e. S./machen sprüche/tun bärden nach; der a. lachen; wunderbarlicher/seltsamer a.; händel des a. [5]. (Es folgen die Belege: [6].)

Die in eckige Klammern gesetzten Zahlen des Beispielartikels kennzeichnen die darin vorkommenden, und zwar die jeweils voranstehenden Erläuterungsteile: [1] Bedeutungsangabe, [2] semantischer Kommentar, [3] Wortbildungshinweise, [4] onomasiologisches Teilfeld, [5] Syntagmen, [6] hier nicht aufgeführte Belege.

12.1.2.2. All diejenigen Erläuterungsteile, die nicht eine Einzelbedeutung, sondern die Gesamtbedeutung betreffen, stehen im Artikelkopf (vgl. 7.3.). Es können Hinweise zur Etymologie, semantische Kommentare, Angaben zur Wortbildung sein.

12.1.2.3. Alle indirekten Erläuterungsteile werden in jeweils eigenen Abschnitten dieser Einleitung behandelt. Im folgenden wird lediglich die Bedeutungsangabe als der für die Mehrzahl der Fälle zentrale Erläuterungsteil behandelt. Dies geschieht unter Einbezug einiger Angaben zum sachlichen Bezugsbereich von Wortbedeutungen sowie einiger Erläuterungen zu ihrem kulturgeschichtlichen Hintergrund.

12.1.3. Die Bedeutungsangabe7878. Vgl. dazu unter dem Terminus lexikographische Synonymie: Wiegand, Herbert Ernst, Pragmatische Informationen in neuhochdeutschen Wörterbüchern. Ein Beitrag zur praktischen Lexikologie. In: Studien zur neuhochdeutschen Lexikographie I, 1981, 139–271; hier: S. 158. soll hier als derjenige Teil der Bedeutungserläuterung aufgefaßt werden, für den der Lexikograph mittels seiner Ersatzkompetenz (d. h. als eingearbeiteter Textkenner des Frühneuhochdeutschen) unterstellt oder als Sprachwissenschaftler behauptet, daß man mit ihm auf die gleiche Sache (im weitesten Sinne des Wortes) Bezug nehmen kann, wie es ein frühneuhochdeutscher Schreiber mit dem zu erläuternden Wort getan hat, und durch den man das Explicandum deshalb im Belegsatz ersetzen kann, ohne den Darstellungswert des Ausgesagten zu beeinträchtigen. Am Beispiel vorgeführt: Der Belegsatz zu abbruch 1 lautet:

dz ein ieder ingsessner der statt Bernn [...] alles dz abholtz, es syent spͤn oder annders [...], deßglychen ouch die abbrüch bhalten vnd nemen.

Ersetzt man abbrüch durch die oben aufgeführte Bedeutungsangabe 1. ›Abfall von Materialien (z. B. von Holz)‹, so würde der Nebensatzteil des Belegs wie folgt lauten:

deßglychen ouch die ›Abfälle von Materialien (z. B. von Holz)‹ bhalten vnd nemen.

Die vorgetragene Auffassung von ‚Bedeutungsangabe‘ versteht sich nicht als allseitig abgesicherte theoretische Definition; dazu müßten die Komplementarität des langue-Bezugs der Bedeutungsangabe und des parole-Charakters jedes Belegs, der genaue Status von ‚Darstellungswert‘, die Anwendbarkeit des Verfahrens für unterschiedliche Wortklassen und vor allem die Überspringung der Grenzen von beschreibender (lexikographischer Fachsprache) zu beschriebener (Nicht-Fachsprache) sowie von neuhochdeutscher zu frühneuhochdeutscher Sprachvarietät diskutiert werden. Sie soll vielmehr eine praktische Handhabe für die interne Strukturierung der Bedeutungserläuterung bereitstellen, so etwas wie ihr Kernstück liefern. Demnach besagen die Häkchen, durch die die Bedeutungsangabe graphisch aus den übrigen Teilen der Bedeutungserläuterung herausgehoben wird, nicht in allen Fällen: Genau dieser Teil ist vollständig und ausschließlich die Bedeutungsangabe in irgendeinem theoretisch exakt umrissenen Sinne. Sie besagen vielmehr: Der in Häkchen gesetzte Erläuterungsteil ist die beschreibungspraktische Realisierung einer theoretischen Bezugsgröße, die von vorneherein im Hinblick auf die Praxis konzipiert und deshalb nur so genau festgelegt wurde, wie es für die Praxis erforderlich ist. Konkret bedeutet dies, daß in die Bedeutungsangabe auch Informationen eingearbeitet sein können, die in anderen Fällen aus ihr ausgeklammert, also einem anderen Erläuterungsteil zugewiesen werden. Eines der wichtigsten Kriterien dafür, wann im ersten und wann im zweiten Sinne verfahren wird, ist der Umfang dieser Erläuterungsteile; sind sie kurz formulierbar und damit fachstilistisch elegant in die Bedeutungsangabe eingliederbar, so wird von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht; müssen sie ausführlicher ausformuliert werden, so stehen sie außerhalb.

Die unterschiedliche Verfahrensmöglichkeit soll an einigen Beispielpaaren vorgeführt werden.

(1) Wortbildungshinweise stehen als Ausnahme innerhalb, in der Regel außerhalb der Bedeutungsangabe, vgl.

abbritzen [...] ›etw. durch Britzen (Bretter, Planken) abtrennen‹

gegenüber dem Regelbild

abbruch [...]; 1. [...] vgl. das verdeutlichende abbruchspelz; vgl. abbreche 2, abbrechen 1.

(2) Angaben des sachlichen Bezugsbereiches eines Wortes stehen in der Regel innerhalb, in einigen Fällen außerhalb der Bedeutungsangabe, vgl.

abbrinnen [...] ›verbrennen, abbrennen (von Konkreta)‹

gegenüber

aberglaube [...] ›falscher Glaube, Irrglaube [...]‹; aus konfessioneller Sicht für den Glauben anderer Konfessionen, aus christlicher Sicht für den Glauben nichtchristlicher Religionen, aber auch für den Vernunftglauben und den Glauben an biblisch nicht erklärbare Zusammenhänge gebraucht.

(3) Kulturgeschichtliche Erläuterungen und Bedeutungsangabe bilden meist eine nicht sinnvoll auflösbare Einheit, in einigen Fällen werden erstere ausgeklammert, vgl.

abenteuerbarchent [...] ›auf dem Lande hergestelltes, von den städtischen Prüfungsbehörden nicht als vollwertig anerkanntes Barchenttuch‹

gegenüber

ablas [...] 6. ›Nachlaß oder Erlaß der Sündenschuld und [...] Sündenstrafen [...]‹. Ablässe wurden vor allem an kirchlichen Festtagen erteilt [...].

12.2. Die typographische Gestaltung der Bedeutungserläuterung

Alle Erläuterungsteile stehen in normaler Schriftgröße und heben sich dadurch von den in Petit gesetzten Belegen und Belegstellenangaben ab, die hier mithin nicht zur Bedeutungserläuterung gerechnet werden. Speziell der Erläuterungsteil ‚Bedeutungsangabe‘ steht in einfachen, nach außen gerichteten französischen Anführungszeichen (Häkchen), vgl.

›Neid, Mißgunst‹ (für abergunst).

Die einzelnen Erläuterungspositionen werden von Ausnahmen abgesehen (vgl. dazu 12.5.) nach Zahlen fortlaufend geordnet und graphisch jeweils durch einen gegenüber dem vorangehenden Artikelkopf (für die erste Position) bzw. gegenüber dem Belegblock der vorangehenden Bedeutungsposition leicht vergrößerten Durchschuß und zusätzlich durch eine neu beginnende, geringfügig nach rechts eingezogene Zeile gekennzeichnet.

12.3. Die Funktion der Bedeutungserläuterung

Die Funktion der Bedeutungserläuterung besteht zusammengefaßt darin, den ihr zufallenden Teil dazu beizutragen, dem Benutzer Antwort auf seine Fragen zu geben. Um dies auch terminologisch zum Ausdruck zu bringen, wird hier ja fortwährend von Erläuterung gesprochen. Konkurrierende Bezeichnungen wie Bedeutungsanalyse, -beschreibung, -definition, -explikation7979. Eine Liste der meistverwendeten Termini bringen Agricola/Brauße/Herberg [u. a.], S. 61. werden deshalb nicht verwendet, weil sie als Ableitungen zweiwertiger Verben lediglich den Sachbezug dieser in Wirklichkeit intentionalen wissenschaftlichen Handlung zum Ausdruck bringen: man analysiert/beschreibt/definiert/expliziert etwas; daß man dies nach der hier vertretenen Auffassung von Lexikographie immer für einen Benutzer tut, wird adäquater durch eine Ableitung von einem Verb bezeichnet, das den Benutzer zumindest fakultativ mitzusetzen verlangt: Man erläutert jemandem etwas.

Im folgenden wird beschrieben, auf welche der den Benutzern unterstellten Fragen in der Informationsposition ‚Bedeutungserläuterung‘, insbesondere in deren zentralem Teil, nämlich der Bedeutungsangabe (vgl. 12.1.3.), eine Antwort zu erwarten ist. Die Argumentation ist rein inhaltlich auf das Faktische ausgerichtet, auf die Tatsache also, daß bestimmte Fragen beantwortet werden. Wie, d. h. nach welcher Erläuterungstypologie und fachsprachlichen Form (vgl. 12.4.) sowie nach welcher Erläuterungsstruktur (vgl. 12.5.) dies geschieht, wird dabei implizit immer schon angedeutet, in jeweils eigenen Abschnitten aber unter je besonderen Aspekten getrennt behandelt.

12.3.1. Die Frage nach Äquivalenten oder partiellen Äquivalenten bei der Translation frühneuhochdeutscher Texte in neuhochdeutsche (vgl. 4.3.1.) findet ihre direkteste Antwort in den bewußt sehr ausführlich gestalteten Reihen erläuternder Synonyme und partieller Synonyme. Sie besagen: Auf dasjenige, worauf man im Frühneuhochdeutschen mit dem durch das Lemma repräsentierten Wort Bezug nahm, kann man in der neuhochdeutschen Standardsprache mittels der angegebenen (partiellen) Synonyme Bezug nehmen, ohne daß diese damit als erschöpfende Liste von Translationsmöglichkeiten gemeint seien. Der den historischen Text Transferierende möge sich aus der jeweiligen Reihe dasjenige aussuchen, was in den Sinnzusammenhang des Translationstextes am besten hineinpaßt; falls keines der angebotenen Wörter paßt, weil die spezifische Sinngebung, unter der die Translation steht, ein anderes Wort (oder ein Syntagma, nämlich bei Wortlücke) verlangt, möge man sich dieses auf Grund seiner neuhochdeutschen Sprachkompetenz selber erschließen, dabei aber die durch die Reihe von (partiellen) Synonymen gegebene semantische Folie nicht außer Acht lassen. Im übrigen erlaubt der Angebotscharakter der (partiellen) Synonymenreihen einige Großzügigkeit bei der Entscheidung, was alles in die Reihe aufzunehmen ist. Typische Beispiele für (partielle) Synonymenreihen sind:

abenteuer [...] 9. ›Posse, Gaukelspiel, Narretei, Zaubertrick, Kunststück, Mätzchen‹.

oder

arbeit [...] 1. ›Widrigkeiten, Schwierigkeiten, Qual, Leid, Not, Anfechtung, Mühe, Mühsal, Anstrengungen [...]‹.

12.3.2. Die unter 4.3.2.2. behandelten Fragen nach der Bedeutung von unbekannten Wörtern (bei Wortlücken), nach einer von mehreren Bedeutungen bekannter Wörter (bei Wortbedeutungslücken) sowie nach den genauen Spezifica einer grob bekannten Bedeutung (bei Spezialisierungslücken) schließen Bedeutungserläuterungen, die lediglich substantialistische Andeutungen des hypothetischen Typs

abenteuer [...] ›eine Art Bewährungsprobe‹

enthalten, prinzipiell aus. Sie verlangen vielmehr die Darlegung selbst feinster, und zwar sowohl der notativen wie der konnotativ wertenden Bedeutungsschattierungen. Beispiele (deren erstes den phrastischen Typ der Bedeutungserläuterung realisiert, deren zweites vorwiegend eine Reihung von (partiellen) Synonymen ist) bilden:

abenteuer [...] 1. ›zum Beweis ritterlicher Tüchtigkeit, oft zugleich zur Heilung von Rechtsbrüchen unternommene ritterliche Bewährungsprobe, risikoreiches Unternehmen‹; auch ›Turnier‹ [...].

oder

abnemen [...] 1. ›verfallen, schwinden, abnehmen (in sehr allgemeinem Sinne)‹; je nach Bezugsgröße spezifisch: a). ›an Macht und Ansehen verlieren, wirtschaftlich, politisch usw. herunterkommen, abnehmen (von Personen und Personengruppen als Funktionsträgern sowie von Qualitäten so zu sehender Personen)‹; b). ›niedergehen, verfallen, geschwächt werden (von Herrschaftsgebilden im weitesten Sinne)‹; c). ›in Verfall kommen, sich abnutzen (von Gegenständen oder Sachverhalten)‹; d). ›an Wert verlieren (von der Münze)‹; offen zu 2 [...].

12.3.3. Die auf die strukturellen Zusammenhänge von Wörtern und Wortbedeutungen zielenden Benutzerfragen (vgl. 4.3.3.) werden nur dann vorwiegend durch die Bedeutungserläuterung beantwortet, wenn sie das semasiologische Feld und den durch dieses bestimmten Stellenwert der einzelnen Wortbedeutung betreffen. Richten sie sich auf das onomasiologische Feld, die Wortbildungszusammenhänge und auf Gegensatzwörter, so ergeben sich die direkten Antworten aus jeweils eigenen Artikelpositionen (vgl. 14. und 16.).

Um zu veranschaulichen, daß und andeutungsweise wie der semasiologische Stellenwert jeder Einzelbedeutung dem Benutzer sichtbar gemacht wird, sei die Bedeutungserläuterung von arbeit (unter Einbezug der semantischen Kommentare) als Beispiel angeführt und unter dem hier relevanten Gesichtspunkt kurz kommentiert:8080. Im folgenden weitgehend wörtliche Übernahme aus Anderson/Goebel/Reichmann 1984 [vgl. Anm. 59], S. 15 f. Keine Bedeutung (polysemer Wörter) konstituiert sich ausschließlich aus sich selbst heraus, sondern auch aus dem Zusammenhang des semasiologischen Feldes, in dem sie steht. So wäre etwa die Bedeutung 6 von arbeit (s. u.) mit der im Wörterbuchartikel vorgenommenen Beschreibung, würde man sie isoliert von den Beschreibungen der Bedeutungen 1–5 betrachten, nur höchst unzureichend erfaßbar. Man würde dazu neigen, arbeit 6 wenn auch vielleicht nicht gänzlich, so doch weitgehend mit heutigem Arbeit im Sinne von ›Berufstätigkeit‹ gleichzusetzen oder jedenfalls in dessen Nähe zu bringen; denn alle Einzelbestimmungen zu arbeit 6 treffen ja auf die Berufstätigkeit zu. Übersehen würde dabei die prinzipielle Einbettung von frühneuhochdeutsch ‚arbeit 6‘ in ein Bedeutungsfeld, das zwar ansatzweise die mit arbeit in den unterschiedlichsten Bedeutungen verbundene aktive, auf ein Ergebnis gerichtete Tätigkeit als Inhaltsgemeinsamkeit erkennen läßt, das insgesamt aber durch ein genus ›Widrigkeiten, Beschwernisse, Mühsal‹, durch von dieser Basis her bestimmte Spezifica wie ›Kampf, Krieg‹, ›Askese‹, ›Todesnot‹, ›Kindsnöte‹ gekennzeichnet ist. Erst wenn man sich diesen Hintergrund bewußt gemacht hat, gewinnen die gebrauchten Einzelformulierungen (wie z. B. das die Erläuterung von ‚arbeit 6‘ einleitende Attribut anstrengend) an Durchsichtigkeit, und zwar schon dadurch, daß sie an Verwandtes unter den anderen Bedeutungspositionen angeschlossen werden können.

arbeit [...]

| 1. ›Widrigkeiten, Schwierigkeiten, Qual, Leid, Not, Anfechtung, Mühe, Mühsal, Anstrengungen körperlicher und psychischer Art, die vor allem Menschen erdulden oder zur Erreichung eines Zieles übernehmen‹; offen zu Spezialisierungen wie unter 2 bis 5, bes. mit letzterer Nuance offen zu 6 [...]. | 6. ›anstrengende Tätigkeit insbes. zum Erwerb des Lebensunterhaltes, berufliche, in der Regel körperliche Arbeit auf allen Gebieten (z. B. im Weinberg, beim Feldbau, im Bergbau, in städtischen Gewerben)‹, mit offenem Übergang zu ›Erwerbstätigkeit zur Erzielung von Gewinn‹, darunter auch zu ›Handel‹, vereinzelt (bes. gegen Ende der Epoche) ›mühevolles geistiges Schaffen, psychische Anspannung zur Erreichung eines Zieles‹; auch: ›Arbeit von Tieren‹; offen zu 1, mit der Nuance ‚psychische Anspannung [...]‘ zu 3; ferner offen zu 7 und 8 [...]. Die Bedeutung gilt teils im neutralen Sinne (dann bes. für ›berufliche Arbeit‹ vor allem der unteren Schichten), teils mit positiver ethischer Wertung als Gegensatz vorwiegend zu Müßiggang und Lasterhaftigkeit [...]. | | --- | --- | | 2. ›Kampf von Einzelpersonen; Belagerung, Beschuß, Krieg, Kriegsbeschwernisse‹ [...]. | | | 3. ›Anstrengung und Mühe der Gottsuche, Askese, religiöse Heiligung, Andachtsübung‹ [...]. | 7. ›Ergebnis, Produkt der Arbeit als beruflicher Tätigkeit‹; Metonymie zu 6 [...]. | | 4. ›Todesnot, Todeskampf, Agonie, Leiden, Marter‹; bes. ›Passion Christi‹ [...]. | 8. ›Kunstfertigkeit, Geschicklichkeit‹ [...]. | | 5. ›Kindsnöte, Geburtswehen; Geburt, Entbindung‹ [...]. | 9. ›Gärung‹; wohl anzuschließen an 6 [...]. |

Abb. 14: Das Bedeutungsspektrum von arbeit.

12.3.4. Die auf Sachinformation zielenden Fragen von Wörterbuchbenutzern (vgl. 4.3.4.) werden in den Bedeutungserläuterungen so weit beantwortet, wie es als Voraussetzung zur Produktion von Translationstexten, zum semantischen Verständnis von Texten sowie texttranszendenter, aber auf dem Studium von Texten beruhender Erkenntnis notwendig ist. Das genaue Maß solcher Information hängt von verschiedenen Gegebenheiten ab. Der für vorliegendes Wörterbuch geplante Umfang von 10 Bänden sowie die Tatsache, daß auch Fachhistoriker aller Sparten zu seinen Benutzern zählen dürften, sprechen für eine ausführliche Darbietung von Sachinformation. Andererseits ist die Textsorte ‚Wörterbuch‘ nicht mit der Textsorte ‚Lexikon‘ zu verwechseln, auch wenn beide Textsorten wegen der schwierigen Trennbarkeit von Sprach- und Weltwissen zueinander offen sein sollten. Es kommt hinzu, daß der Lexikograph sein Sachwissen nicht ausschließlich aus seiner eigenen Textkenntnis herleiten kann, sondern immer wieder auf die vorhandenen Sachlexika und auf kulturgeschichtliche Darstellungen angewiesen ist. Damit unterliegt er einer mindestens doppelten Beschränkung seines Handelns:

Er ist nämlich erstens, und zwar unter quantitativem Aspekt, ständig überfordert. Die Abfassung des Artikels ablas zum Beispiel setzt mindestens rechts- und wirtschaftsgeschichtliche (für ablas 2; 3; 4), theologische (für ablas 5; 6), volkskundliche (für ablas 7) Fachkenntnisse, ferner einiges Grundwissen über landschaftsgebundene Entwässerungstechniken (für ablas 10; 11), über die Weinherstellung (für ablas 12) und über das Geschützwesen des späteren Mittelalters (für ablas 13) voraus, alles Kenntnisse, die man schon für eine mit wenigen Wörtern arbeitende lexikologische Untersuchung nur unter erheblichem Zeitaufwand gewinnen kann, die aber für die Darstellung von Gesamtwortschätzen zu einem kaum bewältigbaren Umfangsproblem werden.

Zweitens (und das ist ein qualitativ-hermeneutischer Aspekt) ist sich jeder Lexikograph natürlich immer bewußt, daß er sich in einen nicht kontrollierten Teil eines Zirkels begibt, wenn er die Information von Sachlexika als gesicherte Fakten behandelt und gleichsam unbesehen in seine Bedeutungserläuterungen einarbeitet, während sie doch ihrerseits entscheidend auf philologischer Textinterpretation beruht. Hier soll nicht suggeriert werden, daß dies prinzipiell anders möglich sei, denn keine geschichtliche Arbeit kann die Tradition überspringend ab ovo beginnen. Es soll aber zu bedenken gegeben werden, daß es zum Stolz des Lexikographen, vielleicht sogar zu seiner Ethik gehört, wenn er der Zielsetzung nach nur solches enzyklopädisches Wissen heranzieht, das zu seinem durch das eigene Textcorpus gewährleisteten Kontrollbereich gehört, und dasjenige Wissen, das sich seiner Kontrolle entzieht, als solches kennzeichnet und/oder verkürzt darbietet.

Von den folgenden Beispielen soll das erste eine wirtschaftsgeschichtliche, das zweite eine theologische Sachinformation belegen; für eine ideologiegeschichtliche Information sei auf das auch unter diesem Aspekt aufschlußreiche abenteuer 1 (s. o. unter 12.3.2.) verwiesen. Das dritte Beispiel (abblasen 4) möge für eine vom Bearbeiter nicht kontrollierbare und deshalb als solche durch Anführungszeichen gekennzeichnete Sachinformation stehen.

abstos [...] ›Wollabfall, schlechte Wolle, die auf dem Streichbaum abgestrichen worden ist‹.

ablas [...] 6. ›Nachlaß oder Erlaß der Sündenschuld und damit verbunden geglaubter Sündenstrafen durch die Kirche auf Grund der Erfüllung vorgeschriebener, darunter vor allem finanzieller Voraussetzungen‹. Ablässe wurden vor allem an kirchlichen Festtagen erteilt [...].

abblasen [...] 4. „›das Fleisch des geschlachteten kleinen Viehes (Lämmer, Hämmel, Kälber) abblasen‹, als Unsitte der Metzger seit dem 16. Jh. bezeugt.“ – Wrede, Aköln. Sprachsch. 6 b [...].

12.4. Typen und fachsprachliche Formen der Bedeutungserläuterung

Sowohl im Abschnitt über den Aufbau der Bedeutungserläuterung (12.1.) wie im Abschnitt über ihre Funktion (12.3.) gab es immer wieder Formulierungen, die auch ihre Typik und fachsprachliche Gestaltung berührten, sie aber deshalb nicht ausführten, weil aus analytischen Gründen zwischen den Gesichtspunkten ‚Aufbau‘, ‚Funktion‘ und ‚Typik plus Sprachform‘ der Erläuterung geschieden werden sollte. Unter synthetischem Aspekt heißt dies natürlich, daß das eine nicht ohne das andere verständlich wird und daß alle Ausführungen zur Bedeutungserläuterung deshalb fortwährend aufeinander bezogen werden müssen.

Will man die Typen der Bedeutungserläuterung und ihre jeweiligen fachsprachlichen Formulierungsmuster in einen konsistenten Zusammenhang bringen, dann ist dies nur auf der Grundlage einer bestimmten Bedeutungsauffassung möglich. Diese wird hier aus der bedeutungstheoretischen Diskussion der letzten beiden Jahrzehnte herausgegriffen und den weiteren Ausführungen vorausgesetzt; sie kann also nicht eigens begründet werden. Es ist die Auffassung von Bedeutung als Gebrauch8181. Wissenschaftstheoretische Begründung im Anschluß an Wittgensteins Philosophische Untersuchungen bei Tugendhat, Ernst, Vorlesungen zur Einführung in die sprachanalytische Philosophie. 2. Aufl. Frankfurt 1979. (suhrkamp taschenbuch wissenschaft 45).; das soll hier heißen: Bedeutung wird verstanden als der Komplex von Regeln, nach denen Sprecher/Schreiber einer Sprache angesichts bekannter oder unterstellter Adressaten(gruppen) mit einem Wort auf eine in Texten angesetzte Wirklichkeit Bezug nehmen. Damit werden alle Typen der Bedeutungserläuterung von vorneherein von den Typen der sog. Definition8282. Zum Problem z. B. Neubauer, Fritz, Die Struktur der Explikationen in deutschen Wörterbüchern. Eine vergleichende lexiko-semantische Analyse. Hamburg 1980, S. 2–10. (Papiere zur Textlinguistik 27). – Die Literatur zum Problem ‚Definition/Erläuterung‘ findet sich diskutiert bei Agricola/Brauße/Herberg [u. a.] 1983, S. 61–66. unterschieden. Von dieser soll hier gelten: Eine als objektsprachlich aufgefaßte Einheit wird nach (vermeintlich) objektiven oder objektivierbaren Analyseprozeduren mit Prädikaten beschrieben, die als metasprachlich aufgefaßt werden und die zu beschreibende Einheit als wohlbestimmt, als genau so und nicht anders beschaffen fixieren. Dies geschieht erstens unter Außerachtlassung der Tatsache, daß solche Prädikate nicht Herleitungen von Sachgegebenheiten, sondern Zuschreibungen von Eigenschaften durch sprechende Menschen sind, und zweitens unabhängig davon, wer sich eine solche Definition einmal zu welchem Zweck anschauen möge. Formuliert man dies positiv von der Bedeutungserläuterung her, so ist besonders hervorzuheben, daß alle ihre Typen von ihrer Funktion her bestimmt sind, einem Benutzer Antwort auf seine Fragen zu geben. Dabei wird der Benutzer, dem ja nicht ohne Grund eine hohe berufliche Qualifikation zugeschrieben wurde, nicht als zu Belehrender antizipiert, der die ihm angebotene Information lediglich übernimmt; er wird vielmehr als jemand vorausgesetzt, der die Erläuterung prinzipiell als Angebot auffaßt, das er in seine eigenen Textproduktionsabsichten, in seine Bemühungen um Textverständnis oder in seine textübergreifenden Erkenntnisbestrebungen als eine unter mehreren Größen einbezieht. Die Bedeutungserläuterung versucht deshalb immer an die unterstellten Vergewisserungsabsichten (Absichten also, die auf einem Fundus eigener Kenntnisse beruhen) sowie an vorausgesetzte Inhalte der Bildungsgeschichte der Benutzer (dazu 6.3.4.5.) anzuknüpfen. Sie ist eine Gegebenheit der Quasi-Interaktion des Lexikographen mit antizipierten Benutzern, nicht Beschreibung eines Sachverhaltes. Dies genau ist dasjenige, was den Grundtyp der Bedeutungserläuterung bestimmt.

Der so verstandene wissenschaftliche Handlungstyp ‚Bedeutungserläuterung‘ (i. Ggs. zu ‚Bedeutungsdefinition‘) hat als Pendant eine Fachsprache, die zu den (gelehrtensprachlichen) Varietäten der Normalsprache hin offen ist. Mit wievielen spezifizierenden Attributen, vor allem erweiterten Adjektivattributen, mit wievielen Nebensätzen, Appositionen usw. sie auch arbeiten mag, so darf doch ihr Gebrauchscharakter gegenüber Benutzergruppen dadurch nicht in Frage gestellt werden. Sie kann höchstens dasjenige optimieren, was in den von H. E. Wiegand definierten usuellen Benennungskontexten8383. Jüngste Fassung der Definition des usuellen Benennungskontextes bei Wiegand, Herbert Ernst, Eine neue Auffassung der sog. lexikographischen Definition [vgl. Anm. 16], S. 75. geschieht; das sind dialogische Kontexte, in denen für einen Fragenden auf dessen Frageäußerungen vom Typ Was ist ein X? Was bedeutet A? Was heißt A? vom Gefragten entweder der Gegenstand X charakterisierend spezifiziert und zugleich als in bestimmter Weise beschaffen charakterisiert wird, wodurch dem Fragenden in der gleichen Antwortäußerung die Bedeutung von A erläutert wird, oder aber in denen ihm die Bedeutung von A erläutert wird, wodurch gleichzeitig der Gegenstand X als in bestimmter Weise beschaffen charakterisiert wird. Dieses normalsprachliche Handlungsmuster darf nicht durch ein qualitativ anderes, nämlich „definierendes“, ersetzt werden.

Im folgenden werden die wichtigsten Einzeltypen der Bedeutungserläuterung, so wie sie in der Experimentierstrecke a – abzwingen ausprobiert wurden, zunächst genannt und danach etwas detaillierter behandelt. Es gibt mindestens:

(1) nach dem Grade des beim Benutzer unterstellten Vorwissens den einfachen und den komplexen Erläuterungstyp,

(2) nach seiner sprachlichen Form den (partiell) synonymischen und den phrastischen Typ,

(3) nach der Art des Beitrages, den Wörter zur Bedeutung von Texten liefern, jeweils spezifische Erläuterungstypen. Sie sollen hier funktional bestimmte Erläuterungstypen genannt werden.

12.4.1. Der einfache und der komplexe Erläuterungstyp

Die Charakterisierung einer Erläuterung als einfach oder als komplex ist niemals im absoluten Sinne, sondern immer nur unter Ansatz von Vergleichspunkten möglich: Eine Bedeutungserläuterung ist nicht schlechthin, sondern nur relativ zu einer anderen einfach bzw. komplex. Wichtiger noch ist ein Zweites: Die Aussage ist einfach ist auf keinen Fall in irgendeinem ontologischen Sinne zu verstehen, so als läge bei einfachen Erläuterungen eine einfache Bedeutung, ein einfacher Gegenstand o. ä. vor, sondern ist wie folgt zu interpretieren: Der Lexikograph meint sich aufgrund der dem antizipierten Benutzer unterstellten Vorkenntnisse auf eine (relativ) einfache Erläuterung beschränken zu können. Man könnte diese deshalb auch die voraussetzende Erläuterung nennen. Die gemeinten Voraussetzungen sind sicher bei der großen Menge banaler Gegebenheiten des Alltags vorhanden (vgl. unten das Beispiel abhämen ›eichen‹); sie können aber auch für Sachverhalte vorliegen, die im Zentrum jahrtausendealter ideologischer Auseinandersetzungen standen, sofern diese Sachverhalte bis heute Gegenstände des gebildeten Bewußtseins sind, wie dies z. B. für abendbrot 2 (s. u.) anzunehmen ist. Die Bedeutungserläuterung ruft mit wenigen Worten gleichsam nur etwas aus dem Wissen des Wörterbuchbenutzers auf. Umgekehrt kann ein jahrhundertelang diskutiertes Thema, wie z. B. ‚ablas‘, vielleicht nicht unbekannt, aber zumindest einigen Benutzergruppen in besonderem Maße unbegreiflich geworden sein; wie natürlich auch geschichtstypische Alltagsgegebenheiten (vgl. abblasen, abheischen) unverständlich bleiben können, wenn sie nicht in einen komplexeren Zusammenhang gestellt werden. In diesen Fällen ruft die Erläuterung nicht Weltwissen auf, sondern vermittelt dieses erst einmal, um den Gebrauch des Wortes zu erläutern. Man könnte von der voraussetzungslosen, besser noch von der voraussetzungsarmen Erläuterung sprechen, wenn dies letztere eine gebräuchliche Wortbildung wäre.

Die Beispiele abhämen, abendbrot stehen für die einfache Erläuterung, abblasen und abheischen für die kompliziertere, das im nächsten Abschnitt aufgeführte ablas 6 für eine erst recht komplexe Erläuterung:

abendbrot [...] 2. ›Brot des heiligen Abendmahls‹.

abhämen [...] ›(Flüssigkeitsmaße) eichen‹.

abblasen [...] 1. ›durch Blasen ein Zeichen geben, meist zur Beendigung des Kampfes, aber auch zur Verkündigung von Tageszeiten‹.

abheischen [...] ›jn. (Angeklagten) oder eine Rechtssache zwecks Appellation aus der Gewalt eines Richters abfordern‹.

Die Unterscheidung von Bedeutungserläuterungen nach dem Kriterienpaar ‚einfach/komplex‘ korreliert in keiner Weise mit den funktional bestimmten Erläuterungstypen, die jeweils einfach und komplex sein können. Schwieriger ist die Korrelation von ‚einfach/komplex‘ mit der Dichotomie ‚(partiell) synonymisch/phrastisch‘. Zweifellos gibt es komplexe Erläuterungen des (partiell) synonymischen Typs (vgl. abenteuer 9 und arbeit 1, unter 12.3.1. und 12.3.3.), insgesamt aber scheint die einfache Erläuterung, die lediglich Vorhandenes aufruft, eine größere Affinität zur (partiell) synonymischen aufzuweisen als zur phrastischen.

12.4.2. Der (partiell) synonymische und der phrastische Erläuterungstyp

12.4.2.1. Wie die Typenbezeichnung bereits besagt, besteht der (partiell) synonymische Erläuterungstyp8484. Herbert Ernst Wiegand hat in seinen jüngsten Artikeln die Verschiedenartigkeit von phrastischem Erläuterungstyp und der Angabe von Synonymen betont. Die phrastische Erläuterung sei der deskriptive Teil von lexikographischen Regelformulierungen, sie beschreibe Bedeutungen; Synonyme dagegen gäben lediglich andere Benennungen als das Lemmazeichen an. Wenn die Synonymenangabe hier dennoch als Erläuterungstyp behandelt wird, so geschieht das aus dem von Wiegand selbst genannten Grund, daß der Wörterbuchbenutzer aus seiner Kenntnis der Bedeutung eines Synonyms auf die Bedeutung des Lemmazeichens schließen könne; er übertrage sein Wissen über das Synonym gleichsam auf das Lemmazeichen. Die Synonymenangabe kann insofern als indirekte Erläuterung der Bedeutung aufgefaßt werden. Vgl. Wiegand, Herbert Ernst, Synonyme in den großen alphabetischen Wörterbüchern der deutschen Gegenwartssprache. In: Festschrift für Lauritz Saltveit zum 70. Geburtstag am 31. Dezember 1983. Hrsg. v. John Ole Åskedal/Christen Christensen/Ådne Findreng/Oddleif Leirbukt. Oslo/Bergen/Tromsö 1983, 215–231, besonders S. 227–228. – Ders. 1985 [vgl. Anm. 16], S. 76–78. minimal aus einem einzigen (partiellen) Synonym der Varietät ‚neuhochdeutsche Standardsprache‘ zu einem Wort der Varietät ‚Frühneuhochdeutsch‘, in aller Regel aber aus einer oft sehr komplexen Reihe (partieller) Synonyme. Der Typ hat dementsprechend mindestens zwei Subtypen. Letzterer, also der aus mehreren Einheiten zusammengesetzte Subtyp, ist ersterem aus zwei Gründen vorzuziehen und wird deshalb im Wörterbuch auch überwiegend verwendet: Er macht erstens dem Benutzer für seine Translationszwecke mehrere (partielle) Äquivalenzangebote. Zweitens: Da die meisten Wörter polysem sind, besteht bei der Angabe lediglich eines einzigen (partiellen) Synonyms die dauernde Gefahr, daß dieses aus sich selbst heraus, das heißt bei isolierter Betrachtung, nicht monosemierbar ist, sondern höchstens aus anderen Artikelpositionen, vor allem aus den aufgeführten Belegen heraus in der gesuchten Einzelbedeutung erschlossen werden kann. Bei den (partiell) synonymen Reihen dagegen wirken die einzelnen Reihenglieder als Angehörige eines onomasiologischen Feldes wechselseitig monosemierend8585. Dies wird (in strukturalistischer Terminologie) näher beschrieben bei Reichmann, Oskar, Zur konventionellen heteronymischen und partiell heteronymischen Signifikatexplikation, dargestellt am Beispiel der Lexikographie über das Frühneuhochdeutsche. In: Neuere Forschungen in Linguistik und Philologie. Festgabe für Ludwig Erich Schmitt zum 65. Geburtstag. Wiesbaden 1975, 198–214; besonders S. 202–203. (Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik, Beihefte, NF 13).. Diese Aufgabe kann selbstverständlich auch ein hinzugefügter phrastischer Erläuterungsteil (vgl. abend 1) oder ein semantischer Kommentar (vgl. abend 5) übernehmen.

Beispiele für den (partiell) synonymischen Erläuterungstyp wurden bereits im Abschnitt über die Funktion der Bedeutungserläuterung (vgl. 12.3.) gegeben; hier seien noch (nach der Zahl der Glieder geordnet) hinzugefügt:

3aber [...] 7. ›oder‹.

abgehen [...] 13. ›ablaufen, verlaufen, vonstatten gehen‹.

3aber [...] 4. ›aber, doch, jedoch, dagegen, indessen‹.

12.4.2.2. Der phrastische Typ besteht oft aus der Angabe von genus proximum und differentia specifica, was fachsprachlich für Substantive zu den Mustern ‚Substantiv + spezifizierender, meist relativer Nebensatz‘, ‚Substantiv + Adjektiv- oder Genitiv- oder Präpositionalattribut‘, für die anderen Wortarten zu funktional entsprechenden Mustern führt. Selbstverständlich können sich die Muster auch mit der (partiell) synonymischen Bedeutungserläuterung verbinden und außerdem untereinander so kombiniert und durch Zusätze ausgeweitet werden, daß im Extremfall der syntaktische Rahmen unüberschaubar zu werden droht. Die folgenden Beispiele stehen für (graduell unterschiedlich komplexe) phrastische Erläuterungen:

ablas [...]

1. [...]: ›Nachlassen des religiösen Ernstes‹ [...].

2. ›bei der Aufgabe eines Gutes zu entrichtende Gebühr‹ [...].

6. ›Nachlaß oder Erlaß der Sündenschuld und damit verbunden geglaubter Sündenstrafen durch die Kirche auf Grund der Erfüllung vorgeschriebener, darunter vor allem finanzieller Voraussetzungen‹ [...].

12.4.2.3. Der (partiell) synonymische und der phrastische Erläuterungstyp haben trotz ihrer unterschiedlichen sprachlichen Form eine wichtige Gemeinsamkeit, und sie zeigen mit der sprachlichen Formunterscheidung korrelierend einige gewichtige Unterschiede. Gemeinsamkeiten und Unterschiede berühren die Funktion beider Typen, so daß das hier als typenkennzeichnend Ausgesagte zugleich als aspektuelle Ergänzung der Ausführungen im Abschnitt 12.3. aufzufassen ist.

Beide Typen vermögen Erläuterungsdifferenzierungen in wenn auch unterschiedlich feiner Weise herauszuarbeiten. Der (partiell) synonymische Typ bietet dazu deshalb erhebliche Möglichkeiten, weil die Reihe von (partiellen) Synonymen nicht als geschlossene Liste von ein für allemal feststehenden Äquivalenten zu einem Wort einer historischen Sprachvarietät aufgefaßt wurde, sondern als offene Reihe, die oft dadurch ergänzt werden kann, daß z. B. wertende, archaisierende, landschaftliche, sozialschichtige und gruppengebundene (partielle) Synonyme hinzugefügt werden. Am Beispiel spezifiziert: Wenn ein frühneuhochdeutsches Wort in seiner Zeit vorwiegend in archaisierenden Texten begegnete, besteht die Möglichkeit, dem Wörterbuchbenutzer dies (außer durch Symptomwertangaben usw.) auch dadurch zu dokumentieren, daß man einen Archaismus in die Reihe einfügt. Was beim (partiell) synonymischen Typ durch zusätzliche lexikalische Einheiten geleistet wird, läßt sich beim phrastischen Typ durch überall einfügbare Attribute, Nebensätze, Adverbien, gradierende Partikeln usw. erreichen, hier sogar in beliebig feiner Weise. Erst recht ermöglicht die Verbindung von (partiell) synonymischer und phrastischer Erläuterung jede beliebige Nuancierung. – Dabei ist stets zu beachten, daß die einzelnen Teile der jeweiligen Erläuterung nicht isoliert gelesen werden dürfen. Das Beispiel

abenteuer [...] 6. ›Erzählung, Geschichte, Bericht von einer merkwürdigen Begebenheit oder Tat; phantastische Erzählung [...]‹

ist also nicht so zu lesen, als bedeute abenteuer erstens dasjenige, was das neuhochdeutsche Erzählung bedeutet, zweitens dasjenige, was neuhochdeutsch Geschichte bedeutet, einmal so etwas wie den (objektiven) Bericht einer (in der Realität) merkwürdigen Begebenheit, einmal dagegen die phantasierende Erzählung (eines realiter Normalen); im Gegenteil, die Erläuterung ist als integrale Ganzheit zu verstehen, abenteuer 6 ist also etwas aus dem Umkreis dessen, was insgesamt beschrieben wird. Nur diese Lesart sichert die Differenziertheit der Erläuterung.

Die Distribution des (partiell) synonymischen und des phrastischen Erläuterungstyps in einsprachigen und mehrsprachigen Wörterbüchern sowie nach dem Grade der Äquivalenz, in die erläuterte lexikalische Einheit und Erläuterung unabhängig von ihrer sprachlichen Zugehörigkeit gebracht werden können, zeigt laut lexikographischer Literatur8686. Man vgl. z. B. Rey-Debove, Josette, Étude linguistique et sémiotique des dictionnaires Français contemporains. The Hague/Paris 1971, S. 193. (Approaches to Semiotics 13). – Zgusta, Ladislav, Manual of Lexicography. The Hague/Paris 1971, S. 318–329. (Janua Linguarum, Series Maior 39). eine gewisse Regelhaftigkeit. Sie wurde zu Übersichtszwecken in das folgende Schema gebracht.

Abb. 15: Schema der Verteilung (partiell) synonymischer/heteronymischer und phrastischer Bedeutungserläuterungen

Dieses Bild suggeriert zugestandenerweise eine größere Regelhaftigkeit, als in der Wörterbuchpraxis realisiert ist (es wird in der lexikographischen Literatur ja auch weniger als Beschreibung eines Zustandes wie als Forderung verstanden). Sieht man von den Übertreibungen einmal ab, dann ergäbe sich folgende Verteilung beider Typen als sinnvoll:

(1) Der (partiell) synonymische/heteronymische Erläuterungstyp ist für das mehrsprachige Wörterbuch der angemessenere. Die Gründe liegen in seiner vorwiegenden Funktion, Übersetzungswörterbuch (in aller Regel: Herübersetzungswörterbuch) zu sein und dann insbesondere Translationsäquivalente anzubieten, sowie darin, daß sich das Problem zirkelhafter Definition nicht stellt.

(2) Der phrastische Erläuterungstyp ist für das einsprachige Wörterbuch der angemessenere. Die Gründe liegen in seiner vorwiegenden Funktion, Schwierigkeiten bei der Textlektüre beheben zu helfen, auf texttranszendente Fragen antworten zu müssen, sowie darin, daß das Problem des lexikographischen Zirkels genuin für das einsprachige Wörterbuch gilt. Die phrastische Erläuterung bietet Handhaben, die Zirkel nicht zu eng werden zu lassen.

(3) Der (partiell) synonymische/heteronymische Typ der Bedeutungserläuterung vermag die sogenannte Nulläquivalenz prinzipiell nicht zu erfassen und sollte dementsprechend immer weniger verwendet werden, je mehr der Verdacht der Nulläquivalenz gegeben ist. Nulläquivalenz ist natürlich ein übertreibender Terminus; er besagt so viel wie: Eine Bedeutung eines zu erläuternden Wortes ist so sozial-, raum-, situations- oder geschichtstypisch (vgl. das Beispiel abenteuer 1), daß es in der Sprache oder Varietät, in der sie erläutert werden muß, keinen lexikalischen Ausdruck gibt, der unter einem usuellen kommunikativen Aspekt inhaltlich mit ihm in einer auch nur partiellen Äquivalenz stünde8787. Zgusta 1971, S. 294 [vgl. Anm. 86], spricht von culture-bound words. Sie können in allen Wortschatzbereichen begegnen. Vgl. auch dens., Translational Equivalence in the Bilingual Dictionary. In: LEXeter ’83 Proceedings. Papers from the International Conference on Lexicography at Exeter, 9–12 September 1983. Ed. by R. R. K. Hartmann. Tübingen 1984, 147–154. (Lexicographica, Series Maior 1).. – Umgekehrt heißt dies natürlich: Die (partiell) synonymische/heteronymische Erläuterung ist immer dann zu verwenden, wenn eine partielle bis vollständige Äquivalenz zwischen erläuterndem und erläutertem Wortschatz gegeben ist.

(4) Der phrastische Typ der Bedeutungserläuterung ist für alle Fälle der Nulläquivalenz der einzig mögliche.

Der aufmerksame Wörterbuchbenutzer kann also vor allem beim mehrsprachigen Wörterbuch aus den Erläuterungstypen (vorausgesetzt, diese werden bewußt verwendet) Rückschlüsse ziehen im Hinblick auf alle sprachstrukturbezogenen Teilfragen im Zusammenhang mit Schwierigkeiten bei der Textrezeption sowie bei textlektüreunabhängigen kognitiven Interessen.

Das vorgetragene Distributionsschema ist im folgenden von den Gegebenheiten des hier beschriebenen Frühneuhochdeutschen Wörterbuches her zu füllen. Dabei ergeben sich sowohl Verteilungsregeln, die aus dem Schema direkt übernommen werden können, als auch Gewichtungen und Mischungen recht komplizierter Art.

Die sich aus dem Äquivalenzgesichtspunkt ergebenden Verteilungsregeln (3) und (4) des obigen Bildes gelten für die frühneuhochdeutsche Lexikographie qualitativ uneingeschränkt. Es ist lediglich ein quantitativer Gesichtspunkt hinzuzufügen: Je mehr erläuterte und erläuternde Sprache/Varietät an eine einzige Kommunikationsgemeinschaft8888. Zum Unterschied von Sprach- und Kommunikationsgemeinschaft, der hier ins Spiel kommt, vgl. Zabrocki, Łudwik, Kommunikative Gemeinschaften und Sprachgemeinschaften. In: Folia Linguistica 4, 1970, 2–23. gebunden sind, desto weniger Fälle von Nulläquivalenz sind zu erwarten. (Am deutlichsten ist dies bei ein- und mehrsprachiger Fachlexikographie für den Fachmann, abgestuft aber auch bei einsprachiger neuhochdeutscher, neufranzösischer usw. Lexikographie, nochmals abgestuft bei der zweisprachigen Lexikographie der Sprachen, die man mit Whorf als Standardeuropäisch8989. Whorf, Benjamin Lee, Sprache. Denken. Wirklichkeit. Beiträge zur Metalinguistik und Sprachphilosophie. Hrsg. und übersetzt v. Peter Krauser. Reinbek 1963, S. 78: „Standard Average European“. bezeichnen könnte). Umgekehrt gilt Entsprechendes: Je deutlicher die erläuternde und erläuterte Varietät/Sprache je eigenen Kommunikationsgemeinschaften zugehören, desto häufiger dürfte die Findung von (partiellen) Äquivalenten zum Problem werden. Das Frühneuhochdeutsche ist wie jede vor Aufklärung und industrieller Revolution9090. Zur Rolle dieser sog. Sattelzeit vgl. die Einleitung zu Brunner u. a., Hist. Lex. liegende historische Sprachstufe des Deutschen zwar eine von dessen Varietäten, gleichzeitig aber sprachliches Verständigungsmittel einer weitgehend anderen Kommunikationsgemeinschaft, eine Aussage, deren letzter Teil nach zwei Jahrtausenden gemeinsamer Kulturgeschichte zum Beispiel für die heutige französische, niederländische usw. Standardsprache nicht in gleichem Maße gemacht werden kann9191. Hiermit soll selbstverständlich in keiner Weise suggeriert werden, daß nicht auch zwischen diesen Sprachen Unterschiede im Bedeutungssystem geradezu an jeder Ecke lauern.. Die phrastische Erläuterung wird deshalb im Vergleich zur zweisprachigen Lexikographie der heutigen europäischen Kultursprachen häufiger anzuwenden sein.

Unter dem Gesichtspunkt ‚Ein-/Zweisprachigkeit‘ vermischt sich das in den Regeln (1) und (2) formulierte Bild, und zwar wie folgt:

Einerseits dient ein frühneuhochdeutsches Wörterbuch auch Zwecken der Translation; es steht insofern in Parallele zu einem zweisprachigen (Her)übersetzungswörterbuch. Dies äußert sich in der bewußt gehandhabten Reihung von (partiellen) Synonymen. Andererseits dient das Frühneuhochdeutsche Wörterbuch der Behebung von Verständnisfragen bei der Textlektüre, der Beantwortung texttranszendenter, darunter sachlich motivierter Fragen und steht insofern in Parallelität zum einsprachigen Wörterbuch; dies schlägt sich in phrastischen Erläuterungen nieder, ohne daß damit gesagt werden soll, daß die (partiell) synonymische Erläuterung unter diesem Aspekt funktionslos sei. Häufig verbindet sich auch die (partiell) synonymische mit der phrastischen Erläuterung, um dem Benutzer auf jede seiner möglichen Fragen eine Antwort anzubieten.

Das damit konstatierte Mischungsverhältnis unterliegt nun einer doppelten Tendenz zugunsten der phrastischen Erläuterung. Die erste wurde soeben bereits formuliert, soll aber hier noch einmal in Erinnerung gerufen werden. Sie lautet: So ernst das Translationsanliegen von Benutzern auch genommen und so konsequent es in der Auflistung von (partiellen) Synonymen auch berücksichtigt wird, so häufig begegnet – und zwar gerade bei den kulturgeschichtlich interessanten und deshalb vermittlungsrelevanten Bedeutungen – die Nulläquivalenz, die nur den phrastischen Erläuterungstyp zuläßt. Zweitens: So bekannt der Wörterbuchbenutzer mit der Kultur der frühneuhochdeutschen Geschichtsepoche auch sein mag, bildet sie doch nicht seine Welt, seine Lebensform. Entsprechend häufig ist deshalb zu unterstellen, daß die Bedeutungserläuterung vorhandenes Vorwissen nicht bloß abrufen kann, sondern erst einmal bereitstellen muß. Dies geschieht ebenfalls zwar nicht ausschließlich, aber doch der im letzten Satz von 12.4.1. behaupteten Affinität von einfacher und (partiell) heteronymischer Erläuterung halber vorwiegend durch den phrastischen Erläuterungstyp. – Es hängt mit diesen beiden Gründen zusammen, daß der phrastische Typ der Bedeutungserläuterung den (partiell) synonymischen quantitativ überragt. Damit kommt das Frühneuhochdeutsche Wörterbuch vom vorwiegend realisierten Typ der Bedeutungserläuterung her dem einsprachigen Wörterbuch näher als dem mehrsprachigen, ohne daß sich die Gründe dafür mit den Gründen decken würden, die in der einsprachigen Lexikographie für die Wahl des vorwiegenden Erläuterungstyps bestimmend sind.

12.4.3. Funktional bestimmte Erläuterungstypen

Die Art des Beitrages, den Wörter zur Bedeutung von Texten liefern9292. Formulierung in Anlehnung an Tugendhat, Ernst, Vorlesungen zur Einführung in die sprachanalytische Philosophie. 2. Aufl. Frankfurt 1979, S. 42. (suhrkamp taschenbuch wissenschaft 45). – Vgl. auch Wiegand, Herbert Ernst 1985 (vgl. Anm. 16) sowie Strauß, Gerhard, Begründung einer Theorie der lexikographischen Nomination: Regeln zur semantisch-pragmatischen Beschreibung funktionaler Wortklassen im einsprachigen Wörterbuch. In: Studien zur neuhochdeutschen Lexikographie III, 1983, 306–381., führt zu unterschiedlichen funktional bestimmten Erläuterungstypen. Ihre Anzahl ist deshalb kaum mit einiger Gültigkeit angebbar, weil die funktionalen Wortklassen, deren Eigenschaften sie zu erläutern haben, nicht wie die traditionellen Wortarten9393. Zur Problematik der traditionellen Wortarteneinteilung vgl. Bergenholtz, Henning, Grammatik im Wörterbuch. In: Studien zur neuhochdeutschen Lexikographie IV, 1984, 19–72. nach relativ leicht handhabbaren morphologischen Gesichtspunkten, sondern nach immer wieder anderen Kriterien konstituiert und deshalb in stark wechselnden, meist offenen Klassifikationen überschaubar gemacht werden, die bezeichnenderweise auch nur partiell aufeinander abbildbar sind und natürlich quer zu den traditionellen Wortarten liegen.

Wie man die funktionalen Wortklassen im einzelnen auch bestimmen möge, jeder Klassifizierungsversuch wird mindestens folgende Einheiten zu berücksichtigen haben: sachbezüglicher Wortschatz, ideologischer Wortschatz, Metaphern, Gefühlswörter, sprachhandlungsbezeichnende Ausdrücke, Partikeln, darunter Gesprächswörter und Modalpartikeln, Routineformeln, Funktionsverbgefüge9494. Diese Liste ergibt sich großenteils aus: Hausmann, Franz Josef/Reichmann, Oskar/Wiegand, Herbert Ernst/Zgusta, Ladislav, Konzeption zu einem internationalen Handbuch der Lexikographie. In: Studien zur neuhochdeutschen Lexikographie IV, 1984, S. 487–506. – Man vgl. auch: Konzepte zur Lexikographie. Studien zur Bedeutungserklärung in einsprachigen Wörterbüchern. Hrsg. v. Wolfgang Mentrup. Tübingen 1982. (Reihe Germanistische Linguistik 38). – Studien zur neuhochdeutschen Lexikographie 1–6, 1981–1986..

Es sei ausdrücklich betont, daß diese Liste sich nicht als Ergebnis einer vorgängigen wissenschaftlichen Analyse, sondern eher als Aufzählung von Wortschatzbereichen versteht, bei deren lexikographischer Erläuterung sich immer wieder je besondere Probleme ergeben. Dementsprechend soll auch nicht der Versuch unternommen werden, pro funktionale Wortklasse die jeweils adäquaten Erläuterungsmuster zu entwikkeln und theoretisch zu begründen. Dies würde nicht nur jeden vernünftigen Umfangsrahmen sprengen; es ist mir (d. h.: dem Bearbeiter, O. Reichmann) offen gestanden ohne längere lexikographietheoretische Vorbereitung auch nicht möglich. Daß ich nicht bereit bin, mich der sich hier stellenden Aufgabe zu unterziehen, hängt außer mit dem dauernden Zeitdruck, unter den einen die Ausarbeitung von Wörterbuchartikeln stellt, auch damit zusammen, daß ich nicht an eine durchgehende Standardisierbarkeit der Erläuterungspraxis glaube. Die Unterschiedlichkeit des Beitrages der funktionalen Wortklassen zur Bedeutung von Texten ist zweifellos eine der Gegebenheiten, die besser durch offene Erläuterungsmuster gefaßt werden können; das sind Muster, die dem Lexikographen einen relativen Spielraum für seine Formulierungen lassen. – Im übrigen ist zu beobachten, daß sich die Metalexikographie der letzten Jahre zunehmend um Lösungen bemüht.

Um zu demonstrieren, wie die Erläuterung mit der Funktion eines Wortes korrelieren kann, seien einige Beispiele aufgeführt. Sie lassen sich nach dem oben Gesagten nicht zu einem System zusammenschließen, liefern allerdings Bausteine zu einem solchen.

(1) Sachbezüglicher Wortschatz, Beispiel:

abstos [...] ›Wollabfall, schlechte Wolle, die auf dem Streichbaum abgestrichen worden ist‹.

(2) Ideologischer Wortschatz, Beispiele:

aberglaube [...] ›falscher Glaube, Irrglaube, Aberglaube, vom rechten Glauben abweichende Glaubensvorstellung‹; aus konfessioneller Sicht für den Glauben anderer Konfessionen, aus christlicher Sicht für den Glauben nicht christlicher Religionen, aber auch für den Vernunftglauben und den Glauben an biblisch nicht erklärbare Zusammenhänge gebraucht.

abgötterei [...] 3. abwertend für den Kult, das Brauchtum anderer konfessioneller Gruppen, überhaupt für das Verhalten Andersdenkender, teilweise mit der Nuance ‚Zauberei, Scharlatanerie‘.

Die Beispiele von abstos (unter (1)) bis abgötterei (unter (2)) können insofern als Punkte einer Skala aufgefaßt werden, als sie eine unterschiedliche Gültigkeit der in den Bedeutungserläuterungen vorgenommenen Prädikationen über die Gegenstände ‚abstos‘ bis ‚abgötterei‘ bei Sprachbenutzern des Frühneuhochdeutschen zum Ausdruck bringen sollen. Ein ‚abstos‘ bzw. ‚abgötterei‘ ist genau immer dann ein ‚abstos‘ bzw. ‚abgötterei‘, wenn die gemachten Prädikationen von den Benutzern des Deutschen des 14. bis 17. Jahrhunderts nicht in Frage gestellt werden.

Eine solche In-Frage-Stellung ist für ‚abstos‘ nicht zu erwarten; der Wörterbuchbearbeiter hat keinen Grund zu der Annahme9595. Auch diese Argumentation wieder in Anlehnung an Herbert Ernst Wiegand 1985 [vgl. Anm. 16]., daß jemand (vorausgesetzt, er kennt den betroffenen Teil der Sachkultur) auch nur ansatzweise bezweifelt habe, ‚abstos‘ sei der vom Streichbaum abgestrichene Wollabfall. Immer dann, wenn solche Zweifel nicht nachweisbar sind oder dem Bearbeiter nicht erwartbar erscheinen, von der geschichtlichen Situation her gesehen: immer dann, wenn keine Zweifel beim geschichtlichen Sprachbenutzer bestehen, erhält dasjenige, was seiner Qualität nach eine Prädikation von Menschen über Gegenstände und damit Teil der Gegenstandskonstitution ist, den Charakter und die Gültigkeit der objektiven Feststellung von etwas, das einem sprachunabhängig vorausgesetzten Gegenstand als Eigenschaft vorgängig anhaftet. Dies ist die Rechtfertigung für die oben gebrauchte Charakterisierung der gemeinten Wortschatzteile als sachbezüglich.

In der Erläuterung von aberglaube mischt sich die Feststellung von allgemein Gültigem/Unbezweifeltem mit Andeutungen der Art, daß man je nach Ideologie wechselnde Prädikationen über ‚aberglaube‘ macht und den Gegenstand damit jeweils anders konstituiert9696. Diese Erscheinung wird oft als ideologische Polysemie bezeichnet; vgl. z. B. Dieckmann, Walther, Sprache in der Politik. Einführung in die Pragmatik und Semantik der politischen Sprache. Heidelberg 1969, S. 70. (Sprachwissenschaftliche Studienbücher, 2. Abt.). – Hermanns, Fritz, Brisante Wörter. Zur lexikographischen Behandlung parteisprachlicher Wörter und Wendungen in Wörterbüchern der deutschen Gegenwartssprache. In: Studien zur neuhochdeutschen Lexikographie II, 1982, 87–108; hier: S. 95–96.. Unbestritten dürfte sein – und damit erhält ‚aberglaube‘ die Unbezweifelbarkeit wie ein Gegenstand der Sachwelt –, daß jeder Sprachbenutzer des Frühneuhochdeutschen sagen würde: aberglaube ist falscher Glaube, Irrglaube [...]. Er würde zugleich aber zugestehen, daß er die Haltung solchen Glaubens ausschließlich den Vertretern entgegengesetzter Ideologien zuschreibt, wie er wohl auch weiß, daß diese umgekehrt verfahren. Genau deshalb würde er, angenommen, er sei Protestant, zumindest mit Erläuterungsabsichten auch nicht sagen: aberglaube ist der Irrglaube, den Katholiken pflegen. – Über ‚abgötterei‘ in der hier vorgeführten Bedeutung sind überhaupt keine gemeinsamen Prädikationen mehr anzunehmen.

Die Unterschiede im Gültigkeitsgrad der in den Bedeutungserläuterungen vorgenommenen Prädikationen haben folgende Niederschläge in der sprachlichen Gestaltung der Erläuterung:

(a) Beim sachbezüglichen Wortschatz fehlt jeder Hinweis auf eine geschichtliche Gruppe als Prädikationsträger, ebenso bei dem unbestrittenen Prädikationsbestand über Ideologiewörter des Typs aberglaube. Umgekehrt sind für den allgemeinen Prädikationsbestand über Ideologiewörter die jeweiligen Prädikationsträger angedeutet, man vgl. unter aberglaube die Wendungen aus konfessioneller Sicht, aus christlicher Sicht, unter abgötterei: konfessionelle Gruppen [usw.]. – Man könnte gegen diese Argumentation einwenden, beim sachbezüglichen Wortschatz und beim unbestrittenen Prädikationsbestand über ideologische Gegenstände seien ebenfalls Gruppenbindungen vorhanden, nur würden diese statt in den Bedeutungserläuterungen in den Symptomwertangaben behandelt. Dieses Argument gilt zunächst ohne Einschränkung, denn die Raum-, Zeit- und Textsortenbestimmungen der Symptomwertangaben sind natürlich implizit Hinweise auf Raum-, Zeit- und Situationsgruppen. Im Unterschied zu den Hinweisen auf Gruppenbindungen in den Bedeutungserläuterungen aber gilt für die Zeit- und Raumbestimmungen: Innerhalb des zeiträumlichen Rahmens haben die Prädikationen der Bedeutungserläuterungen gleiche Gültigkeit wie in denjenigen Fällen, in denen Zeit- und Raumbestimmungen fehlen. Bei den Textsortenhinweisen dagegen liegen die Verhältnisse komplizierter: Sie sind als Hinweise auf Situationsgruppen Hinweise auf eine Gruppenform, die sich in einem besonderen Typ des kommunikativen Handlungsspiels, etwa im Gottesdienstbereich oder in der Pflege archaisierender Textsorten, konstituiert und sich im Anschluß an die Handlungssituation zeitweilig wieder auflöst, die also prinzipiell offen ist (ohne daß damit gesagt werden soll, die Zeit- und Raumgruppen seien geschlossen). Die Textsortenbestimmungen haben insofern eine den Gruppenhinweisen der Bedeutungserläuterung ähnliche Funktion; der Wortartikel ist eben als integrale Ganzheit zu rezipieren (vgl. 7.5.). Am Beispiel: Die Angabe fiktionale, archaisierende und historisierende Texte zu abenteuer 1 hätte auch in die Bedeutungserläuterung hineingenommen werden können, etwa in folgender Form: bei archaisierender Nachzeichnung mittelalterlicher Ritterideologie: ›[...] zur Heilung von Rechtsbrüchen unternommene ritterliche Bewährungsprobe‹. Damit wäre die Trägergruppe dieser Verwendung angedeutet gewesen: alle diejenigen, die an der Archaisierung Interesse haben, z. B. Höfe.

(b) Der unbestrittene Prädikationsbestand des Sach- und des ideologischen Wortschatzes ist Gegenstand der Bedeutungsangabe, steht also zwischen Häkchen (vgl. ›falscher Glaube [...]‹); außerhalb der Bedeutungsangabe, aber innerhalb der Bedeutungserläuterung, finden sich die Hinweise auf den nicht allgemein gesicherten Prädikationsbestand.

(c) Zwischen Lemma und Bedeutungsangabe steht immer dann kein Relationsausdruck, wenn der Prädikationsbestand so gesichert ist, daß man die Kopula ist einsetzen könnte:

abstos ist [...] schlechte Wolle [...].

aberglaube ist falscher Glaube [...],

aber nicht:

*aberglaube ist der Glaube anderer Konfessionen.

Umgekehrt: Immer dann, wenn Prädikationen deutlich ungesichert sind, kann ein anderer Relationsausdruck, meist gebraucht für stehen, vgl. aberglaube [...] aus konfessioneller Sicht für den Glauben anderer Konfessionen [...] gebraucht.

(3) Partikeln, Beispiel:

aber [...] 2. ›ferner, des weiteren, außerdem, noch‹; in Erzähl- und Argumentationsreihungen zur Kennzeichnung eines neuen Punktes; offen zu 3. Stellung jeweils am Satzanfang in Reihung mit dan, nicht minder, mer, weiter, fürbas, anderwerbe usw. [...].

3. ›denn, also, nun, aber‹; zur Kennzeichnung des Fortgangs des Handlungs- und Argumentationsverlaufs; Stellung im Satzinnern [...].

6. [...] zur Verstärkung einer Behauptung, besonders in Verbindung mit ja und doch: ›aber ja, gewiß, natürlich‹.

Die Bedeutungserläuterung enthält in allen drei Fällen in der Bedeutungsangabe Synonymenreihen; dieser Typ der Erläuterung ist also auch für Partikeln möglich. Die Erläuterungen sind ferner komplex; es werden Hinweise auf die Rolle von aber im Erzähl- und Argumentationszusammenhang, auf seine Stellung im Satz- und Textganzen sowie auf seine Semantik gegeben. Insgesamt wird nachgezeichnet, wie ein Autor mit Hilfe von Wörtern des Typs aber Texte gliedert, Aussagen weiterlaufen läßt oder verstärkt. Die Fachsprache der Erläuterung nähert sich textgrammatischer Fachsprache9797. Diese Ausführungen sind deshalb noch äußerst global, weil in der bisher behandelten Wörterbuchstrecke zu wenig Fälle begegnen, die die Problematik zu differenzieren helfen. Speziell für die Modalpartikeln sei auf das von Werner Wolski erarbeitete Beschreibungsmuster hingewiesen: Die Modalpartikel schon in Wörterbüchern und linguistischen Untersuchungen. Ein Beitrag zur praktischen Lexikologie. In: Studien zur neuhochdeutschen Lexikographie IV, 1984, 453–468..

12.5. Die Struktur der Bedeutungserläuterung

Dieser Abschnitt diskutiert die unter 12.3.3. angedeutete Frage, auf welche Weise der semasiologische Stellenwert der Einzelbedeutung dem Benutzer sichtbar gemacht werden kann, bedeutungstheoretisch formuliert, wie die Einzelbedeutungen eines Wortes in den Bedeutungserläuterungen, speziell in den Bedeutungsangaben strukturell miteinander verbunden werden. Die Antwort auf die Frage ist durch die Ausführungen zur Erläuterungstypologie bereits vorgezeichnet, insbesondere durch die Aussage, die Erläuterung sei von ihrem Grundtyp her eine intentionale Handlung von Lexikographen gegenüber Wörterbuchbenutzern und nicht wertfreie Beschreibung eines Sachverhaltes (vgl. 12.4.).

In der lexikographischen Literatur wird die Frage nach der Struktur von Wortbedeutungen immer einmal wieder unter Einzelaspekten, aber nirgendwo prinzipiell diskutiert9898. Z. B. in: Probleme der semantischen Analyse. Von einem Autorenkollektiv unter der Leitung von Dieter Viehweger. Berlin 1977, S. 275. (Studia Grammatica 15).. In der Praxis folgt man äußerst unterschiedlich zwei Strukturierungsmustern9999. Das Folgende in enger Anlehnung an Anderson/Goebel/Reichmann 1985, S. 262 f. (vgl. Anm. 59)..

12.5.1. Das erste Muster sieht wie folgt aus: Man gliedert100100. Es ist ein Verfahren, das u. a. im RWB und in der Neub. des DWB angewandt wird. aus offensichtlich eng zusammengehörigen Bedeutungen die als gemeinsam erachteten Inhaltsmerkmale aus, behandelt sie als generische Angaben und stellt sie den weiteren, als zunehmend spezifischer aufgefaßten Angaben voran. Wenn dies mehrstufig erfolgt, entstehen Merkmalhierarchien, an deren Spitze im Extremfall eine einzige sehr generische Beschreibungseinheit, an deren Fuß beliebig feine Ausdifferenzierungen stehen können. Graphisch schlägt sich dies so nieder, daß die verschiedenen Hierarchiestufen gerne durch jeweils besondere Kennzeichen (wie Großbuchstaben, römische Zahlen, arabische Zahlen, griechische Buchstaben) oder auch durch das Dezimalsystem voneinander unterschieden werden. Auch der Schrifttyp kann variieren.

12.5.1.1. Am Beispiel abenteuer soll vorgeführt werden, wie sich dies im Detail gestaltet; dabei geht es hier nur um das Muster, nicht darum, ob die Gliederung inhaltlich in Einzelheiten besser anders gestaltet worden wäre. Die in eckigen Klammern stehenden Zahlen am Ende der jeweiligen Ausdifferenzierung beziehen sich auf die Bedeutungspositionen im Wörterbuchartikel abenteuer, der mithin zu Zwecken des Vergleichs als Folie mit heranzuziehen ist.

1. Handlung von Menschen

1.1. gegenüber Menschen

1.1.1. gegenüber Gegnern, um diese zu überwinden und/oder um sich als besser zu erweisen

1.1.1.1. im Sinne ritterlich-höfischer Ideologie: ›zum Beweis ritterlicher Tüchtigkeit [...] unternommene ritterliche Bewährungsprobe [...]‹ [1, Teil]

1.1.1.2. im militärischen Sinne: ›[...] Kampf, Krieg‹ [3]

1.1.1.3. mit Spielabsichten in Wettbewerbssituationen

1.1.1.3.1. im ritterlich-höfischen Bereich: ›Turnier‹ [1, Teil]

1.1.1.3.2. im stadtbürgerlichen Bereich: ›Preis-, Wettschießen‹ [16]

1.1.2. gegenüber Geschäftspartnern: ›Geschäft, Handelsabschluß‹ [12]

1.1.3. gegenüber Mitmenschen allgemein

1.1.3.1. zu Betrugszwecken: ›Unrechtmäßigkeit [...]‹ [8]

1.1.3.2. zu Zwecken der Unterhaltung

1.1.3.2.1. sprachlich

1.1.3.2.1.1. neutral: ›Erzählung, Geschichte, Bericht [...]‹ [6, Teil]

1.1.3.2.1.2. wertend: ›Lügengeschichte, Ammenmärchen‹ [7]

1.1.3.2.2. mimisch, gestisch: ›Posse [...], Mätzchen‹ [9]

1.2. generell in schwierigen Lebenssituationen, um diese zu meistern: ›Wagnis, Risiko‹ [11]

2. Vorgang

2.1. allgemein: ›Ereignis, Begebenheit schlechthin‹ [5, Teil]

2.2. speziell in verschiedenen Hinsichten

2.2.1. mit dem Aspekt des Merkwürdigen: ›merkwürdige [...] Begebenheit‹ [5, Teil]

2.2.3. mit dem Aspekt des nicht Erklärbaren: ›Zufall, Glück‹ [14]

3. Implikate der Handlung oder des Vorganges

3.1. das Ergebnis

3.1.1. der Handlung im höfisch-ritterlichen Sinne: ›[...] Trophäe [...]‹ [2]

3.1.2. der militärischen Handlung: ›Beute [...]‹ [4]

3.1.3. des bürgerlichen Preisschießens: ›der [...] Preis‹ [17]

3.1.4. der gefahrvollen Suche nach Bergschätzen: ›Bergschatz‹ [15]

3.2. der Gegenstand geschäftlicher Handlungen: ›minderwertige [...] Handelsware [...], Kostbarkeit‹ [13]

3.3. die Vorlage einer Erzählung: ›Quelle [...]‹ [6, Teil]

3.4. das Mittel mimisch-gestischer Unterhaltung: ›Mittel zur Posse‹ [20]

Abb. 16: Generisch ausgliederndes Muster der Bedeutungserläuterung am Beispiel abenteuer.

12.5.1.2. Dieses Strukturierungsmuster, dem man ja eine geradezu suggestive Übersichtlichkeit nicht absprechen kann, ist wie folgt zu verstehen:

Indem es generische Inhaltsmerkmale (in struktureller Terminologie: Semaseme101101. Zum Terminus: Helmut Henne, Semantik und Lexikographie, S. 132.) ausgliedert, liefert es eine linguistische Hypothese über die sozialkognitiven Assoziationen, die die Einheit des Wortes im Bewußtsein von Sprechergruppen sichern und auf deren Grundlage ein Wort z. B. in metaphorischer, in metonymischer, in spezifizierter, überhaupt in partiell neuer Weise gebraucht werden kann. Folglich ist die Herausarbeitung von Semasemen in all denjenigen Wörterbüchern eine entscheidende Hilfe, deren Benutzer eine Wortgeschichte, unterschiedliche soziale Wortverwendungen, bestimmte sprachgeographische Bedeutungsausprägungen, spezielle idiolektale, insbesondere poetisch-fiktionale Gebräuche in einen assoziativen Gesamtzusammenhang bringen möchten, um entweder eine spezielle textliche Verwendung besser zu verstehen, oder aber um unterschiedlichen Wortgebrauch unabhängig von textgebundenen Interessen rein kognitiv zu erkennen, bevor solche Erkenntnisse eventuell in die allgemeine Disposition zu kommunikativen Handlungen eingehen. – Überdies weist das Muster gleichsam auf Anhieb Lücken im semasiologischen Feld auf: So fehlt z. B. in den Handlungsbedeutungen unter 1.1., die unter Punkt 3. metonymische Entsprechungen haben, eine Position ›Suche nach Bergschätzen‹. Feststellungen dieser Art vermögen einerseits zur Rekonstruktion der Bedeutungsgeschichte beizutragen und könnten andererseits Voraussagen über künftige Entwicklungen ermöglichen; falls man diese aus prinzipiellen geschichtstheoretischen Gründen ablehnt, vermögen sie doch die Aufmerksamkeit des Forschers zu steuern und geben sie dem Wörterbuchbenutzer die Möglichkeit, eine in Quellentexten offensichtlich vorliegende, aber im Wörterbuchartikel nicht angegebene Bedeutung als in das Gesamtbild passend zu erkennen.

12.5.1.3. Überblickt man von hier aus noch einmal die in Abschnitt 4.3. den Benutzern unterstellten Fragen, dann könnte man im Hinblick auf diejenige Teilmenge von ihnen, die sich aus Verständnisschwierigkeiten bei der Textrezeption und aus texttranszendenten kognitiven Interessen ergeben, der Meinung sein, das generisch ausgliedernde Muster sei das gegenüber dem Reihungsmuster adäquatere. Dies wird der Grund dafür sein, daß es in den großen geschichtsbezogenen Wörterbüchern des Deutschen, zum Beispiel dem Deutschen Wörterbuch der Brüder Grimm und dem Deutschen Rechtswörterbuch, sehr ausgiebig verwendet wird; es sind denn auch Wörterbücher, die dominant auf die gerade angesprochenen Fragetypen antworten. Für Fragen, die auf Schwierigkeiten bei der Textproduktion beruhen, und für Fragen, die auf Sachinformation zielen, wäre das Strukturmuster der Bedeutungserläuterung dagegen eher irrelevant.

12.5.1.4. Im vorangehenden Abschnit wurde mehrfach – und zwar bewußt – der Konjunktiv gebraucht; das ist als Distanzierung gemeint, allerdings nicht in der strikten Weise, daß die generisch ausgliedernde Bedeutungserläuterung niemals auch nur ansatzweise gebraucht wird, wohl aber so, daß sie nicht das vorwiegend verwendete Erläuterungsmuster bildet. Dies hängt einerseits mit einigen nicht auf den ersten Blick erkennbaren Cruces des Musters und andererseits mit der besonderen Leistungsfähigkeit der reihenden Erläuterung zusammen.

Die erste Crux der generisch ausgliedernden Bedeutungserläuterung ergibt sich daraus, daß sie Hypothesen über Gegebenheiten mit einem sehr unterschiedlichen Status in eine gleitende Übergangsskala bringt, ohne zu markieren, wo der eine Status aufhört und der andere anfängt: Die hochgradig generischen Inhalte, die am Anfang der Ausgliederungen stehen, haben einen (sozial)kognitiven Status, von einem nicht gekennzeichneten Punkt der Differenzierungsreihe an stehen die Sememe (Einzelbedeutungen) als die kommunikativ relevanten Einheiten, und am Endpunkt der Reihen können Gebrauchsvarianten von Sememen aufgeführt werden.

Damit verbindet sich eine methodische Crux. Wenn die generischen Inhalte (sozial)kognitiven und nicht einen kommunikativen Status haben, dann lassen sich für sie weder onomasiologische Felder, noch typische Syntagmen, noch Gegensatzwörter nachweisen, die unter einem angebbaren Aspekt sinnvoll wären. Zwar könnte man z. B. zu dem Begriff ‚Handlung von Menschen gegenüber Menschen‘ (Punkt 1.1.) wie zu jedem beliebigen Begriff Felder (entsprechend: Syntagmen, Gegensatzwörter) ansetzen, im Beispielsfalle also alle möglichen handlungsbezeichnenden Ausdrücke. Aber diese würden den allgemeinen Frühneuhochdeutschkenntnissen des Lexikographen entstammen müssen, wären also erst dann abrufbar, wenn das Wörterbuch fertig wäre. Die andere Möglichkeit der Gewinnung onomasiologischer Felder, nämlich aus der Textumgebung von Wortbelegen (vgl. hierzu 14.1. (4) und (5)), ist nicht realisierbar, da abenteuer als ‚Handlung von Menschen gegenüber Menschen‘ in Texten nicht vorkommt.

Noch entscheidender scheint mir folgende Crux der generisch ausgliedernden Bedeutungserläuterung zu sein: Sie suggeriert insgesamt eine „Logik“, schwächer ausgedrückt, einen Grad an Wohlbestimmtheit und damit Unterscheidbarkeit der Einzelbedeutungen, der m. E. nicht gegeben ist. Schon die Gliederung nach 1. Handlung von Menschen und 2. Vorgang ist der Verwendung von abenteuer in den Texten nicht adäquat, weil es nicht so sehr auf abenteuer als ›Handlung‹ oder als ›Vorgang‹ ankommt als auf die Besonderheiten, die mit dem einen wie mit dem anderen zusammenhängen. Der Punkt 3. Implikate der Handlung oder des Vorgangs faßt die Punkte 1 und 2 denn auch zusammen, was ihre Unterscheidung im Nachhinein wieder aufhebt. Überdies rückt all dasjenige, was nach der Unterscheidung ersten Grades unter 1., 2. oder 3. fällt, in maximale Entfernung zueinander, während Handlungsbedeutung und Metonymie sprachlich doch zusammengehören. Im Sinne dieser Kritik könnte man weiterfahren bis in die Unterpunkte hinein: 1.1. gegenüber Menschen hat keinen rechten Gegensatz in 1.2. generell in schwierigen Lebenssituationen, um diese zu meistern; 1.1.1. gegenüber Gegnern [...] hat keinen rechten Gegensatz in 1.1.2. gegenüber Geschäftspartnern usw. Diese Kritik ließe sich auch durch eine inhaltlich andere Durchgliederung nicht gegenstandslos machen, die Einwände wären nur anders. Das generisch ausgliedernde Erläuterungsmuster legt nämlich qualitate qua fest,

  • was genus und was differentia ist,
  • es weist den einzelnen inhaltlichen Nuancen von Bedeutungen einen fixen Strukturplatz zu,
  • es fixiert mit der Zuweisung eines solchen Platzes den Grad der inhaltlichen Verwandtschaft der Endpositionen der Differenzierungsreihen,
  • es verdeckt mit all dem die gerade für den Kulturwortschatz charakteristische semantische Offenheit der einzelnen Bedeutungen zueinander, verschüttet einfach dadurch, daß es Differenzierungsstränge ausformuliert, die Vielfalt inhaltlicher Bezugsmöglichkeiten zueinander.

12.5.1.5. Beschreibt man dies alles im Hinblick auf den Wörterbuchbenutzer, so gestalten sich die Einwände wie folgt: Die Gliederungspunkte höherer Ordnung sind nicht nur im angegebenen Beispiel, sondern auch in vielen anderen Fällen Universalien oder jedenfalls Inhaltseinheiten von sehr allgemeiner Geltung. Ihretwillen ist keine einzige textbezogene (rezeptions- oder produktionsrelevante), sondern sind höchstens texttranszendierende Nachschlagehandlungen denkbar: es sind Inhalte, die jeder, der einen Text liest, aus dessen allgemeinem Sinnzusammenhang heraus erschließen kann. – Was noch schwerer wiegt: Dadurch daß der generisch ausgliedernde Typ den Lexikographen zwingt, die Beziehungen zwischen den Einzelbedeutungen auszuformulieren, zwingt er ihn zugleich zum Reduktionismus, daß heißt hier: zur Beschränkung auf eine pro Endposition einzige Reihe von inhaltlichen Differenzierungen. Als Benutzer des Frühneuhochdeutschen Wörterbuches sind aber im wesentlichen Angehörige des tertiären Bildungsbereichs antizipiert, also Historiker, Theologen, Literaturwissenschaftler usw., die nicht fixe Bezugsetzungen unter häufig universalistischen Kriterien vorgegeben haben müssen, sondern die in der Lage sind – und darauf kommt es an, wenn die dauernde Betonung des Benutzerbezugs nicht eine modische Floskel bleiben soll –, solche Bezugsetzungen nach ihren je eigenen Gesichtspunkten aus den Bedeutungserläuterungen selbst vorzunehmen. Dann nämlich kann zum Beispiel die Bedeutung ›Posse [...], Mätzchen‹ aus der Reihe Handlung von Menschen (1.) gegenüber Menschen (1.1.) allgemein (1.1.3.) zu Zwecken der Unterhaltung (1.1.3.2.), die mimisch, gestisch erfolgt (1.1.3.2.2.) herausgelöst und unter die Fragestellung ‚Pejorisierung von ehemals typisch höfischen Wortverwendungen‘ in die Nähe von 1.1.3.1., von 1.1.3.2.1.2., von 3.2., vielleicht auch von 1.1.1.3.2., von 1.1.2. gestellt werden; oder all dasjenige, was nicht offensichtlich auf den höfischen Bereich bezogen ist, kann unter den Aspekt der Verbürgerlichung ehemals höfischer Bedeutungen gestellt werden. Auch Aspekte wie ‚Moralisierung‘, ‚Realistik‘ usw.102102. Mit diesen Aspekten wird angespielt auf Leitbegriffe von: Kunisch, Hermann, Spätes Mittelalter. In: Maurer/Rupp 1, S. 266 und passim. wären denkbar, um semasiologische Beziehungen zu stiften.

12.5.2. Das im Frühneuhochdeutschen Wörterbuch durchgehend verwendete Strukturierungsmuster für die Einzelbedeutungen eines Wortes ist die Auflistung nach einer Zahlenordnung, deren interne Reihenfolge in 12.7. diskutiert wird. Die besonderen Möglichkeiten dieses Musters ergeben sich daraus, daß es erstens erlaubt, generische Inhaltsmerkmale (durch die die Signifikate polysemer Wörter ja konstituiert werden) auf eine viel flexiblere und deshalb viel leistungsfähigere Weise herauszustellen, und daß es zweitens gestattet, die vielfältigen inhaltlichen Bezugsmöglichkeiten der einzelnen Sememe untereinander unter sehr viel mehr Aspekten offenzuhalten, als es bei der ja immer und notwendigerweise reduktionistischen Ausgliederung generischer Inhalte möglich ist. Dazu werden prinzipiell normalsprachliche Erläuterungsformen verwendet (vgl. 12.4.). Auch und gerade der einfache (im Gegensatz zum komplexen) Erläuterungstyp und die Reihung partieller Synonyme haben unter diesem Aspekt eine besondere Funktion, während sie für das generisch ausgliedernde Strukturmuster höchstens einen peripheren Platz haben. Am Beispiel abenteuer soll wieder belegt werden, auf welche Weise die einzelnen Bedeutungen durch normalsprachliche Erläuterungen miteinander verknüpfbar sind, ohne daß andere Bezugsmöglichkeiten verschüttet werden; ich beschränke mich auf die Erläuterung von abenteuer 1. Sie wird zuerst im vollen Wortlaut geboten, danach mit ihren einzelnen Erläuterungstücken in Bezug zu Parallelen, Gegensätzen usw. der Erläuterung anderer Bedeutungen des Wortes gesetzt. Selbstverständlich würde das Netz von Bezugsetzungen viel dichter, wenn man die Erläuterung aller Bedeutungen in der vorgeführten Weise in Bezüge bringen würde.

| Nr. der Bedeutung | Formulierung der Erläuterung | Nr. der Bedeutung | Formulierung der Erläuterung | Kommentar | | --- | --- | --- | --- | --- | | 1. | zum Beweis | 2. | Siegesbeweis, Trophäe, Preis | ausdrucksseitiger Bezug, ferner: Handlungsresultat als Beweis für die Handlung wörtliche Wiederholung ausdrucksseitiger Bezug; inhaltliche Bezüge (Rechtsbruch/Unrechtmäßigkeit), inhaltlicher Gegensatz (Heilung/Unrechtmäßigkeit) Wiederholung des Attributes | | | | 4. | Beute | | | | | 17. | zu gewinnender Preis | | | 1. | ritterliche Tüchtigkeit | 2. | ritterliche Tüchtigkeit | | | 1. | oft zugleich zur Heilung von Rechtsbrüchen | 8. | Unrechtmäßigkeit | | | 1. | unternommene ritterliche Bewährungsprobe | 2. | ritterliche Tüchtigkeit | | | | | 3. | Auseinandersetzung, Kampf | Wörter eines Wortfeldes mit -probe unter 1. | | | | 4. | Auseinandersetzung | vgl. nächsthöhere Zeile | | | | 9. | Posse | inhaltlicher Gegensatz zu Bewährungsprobe | | | | 14. | Zufall, Glück | vgl. nächsthöhere Zeile inhaltlicher Bezug | | 1. | risikoreiches Unternehmen | 5. | gefahrvolle Begebenheit | | | | | 11. | Risiko, Wagnis | ausdrucksseitiger Bezug gleiches Wortfeld wie risikoreiches Unternehmen | | 1. | Turnier | 16. | Preis-, Wettschießen | gleiches Wortfeld |

Abb. 17: Verknüpfung der Bedeutungen eines semasiologischen Feldes durch normalsprachliche Erläuterungen am Beispiel von abenteuer, Bedeutung 1.

12.6. Die Anzahl der Einzelbedeutungen

Die Frage, wieviele Bedeutungen pro Einzelwort anzusetzen sind, stellt sich nahezu für jede lexikalische Einheit103103. Zum Problem zuletzt: Stock, Penelope F., Polysemy. In: LEXeter ’83 Proceedings [vgl. Anm. 87], 131–140.. Es ist zugleich die Frage nach dem Generizitätsgrad der Bedeutungen, nach ihrer Identifikation und nach ihrer wechselseitigen Abgrenzbarkeit.

Obwohl dieser Fragenkomplex die tagtägliche Arbeit des Lexikographen bestimmt, ist er in der wissenschaftlichen Literatur nicht entsprechend intensiv diskutiert worden. Von einer Lösung, die praktische Handhaben bieten würde, kann auch nicht ansatzweise gesprochen werden. Wenn trotzdem seit Jahrtausenden Wörterbücher geschrieben wurden, dann kann dies nur heißen, daß die lexikographische (wie so manche linguale) Praxis auch dann hinreichend funktionieren kann, wenn die linguistische Formulierung der Arbeitsregeln unzureichend oder überhaupt nicht gelungen ist. Es muß deshalb erlaubt sein, in der folgenden Problemdiskussion von der eigenen Bearbeitungspraxis auszugehen, diese im Hinblick auf ihre Grundlage zu reflektieren und im Anschluß daran linguistisch so weit wie möglich zu begründen. Die Argumentation geht also von der Praxis auf die Linguistik, leitet nicht etwa die Praxis aus der Linguistik her.

12.6.1. Das Problem der Identifikation und damit der Abgrenzung von Einzelbedeutungen stellt sich äußerst generell. Trotzdem kann gesagt werden, daß es im Wortschatz für den gesamten gesellschaftlichen Bereich (mit Recht, Wirtschaft, Religion, Philosophie, Staat, täglicher Lebenspraxis usw.) häufiger und noch schwerer lösbar begegnet als für den Wortschatz der Sachwelt. Es sind insbesondere folgende semantische Konstellationen, die vom Lexikographen im einen oder anderen Sinne zu entscheiden sind (häufig überlagern sich die Befunde; von einer vorgehenden Klärung der verwendeten Begriffe wird abgesehen; die Konstellationen (5) ff. sind die sogenannten Tropen der Rhetorik; bei ihnen kommt zusätzlich das Problem der Lexikalisierung ins Spiel):

(1) Kontinuum zwischen allgemeiner Bedeutung einerseits und verengerten Bedeutungen andererseits, vgl. die Bedeutungen 1, 2, 7 von:

abbrechen [...] 1. [...] ›e. S. von einer anderen abbrechen, trennen, losreißen‹ [...].

2. ›etw. (z. B. Gebäude) mit Gewalt abreißen‹.

7. ›(Obst) pflücken; (Wein) lesen; (Pilze) sammeln; (Blumen) brechen, pflücken‹.

Die 7. Bedeutung von abbrechen könnte auch als Gegenbeispiel fungieren, da sie mehrere Gebrauchsvarianten zusammenfaßt; dies ist auch der Fall in:

abbrechen [...] 11. ›sich einschränken in seinen Lebensbedürfnissen [...], sich e. S. enthalten, sich mäßigen‹; speziell: ›Askese üben, sich kasteien‹.

Weitere Beispiele im Wörterbuch passim, vgl. abdingen 2; 3; 4; abend 1; 4.

(2) Unterschiedliche Gegenstandsbereiche, auf die mit einem Wort Bezug genommen werden kann, z. B. Menschen und Tiere (in diesen Zusammenhang gehören einige obszöne Wortverwendungen), Personen und Instanzen, Menschen und Sachen, Fläche/Inhalt und auf der Fläche/im Inhalt Befindliches, vgl. z. B.

abgehen [...] 12. ›sterben (von Menschen)‹; ›eingehen, verenden (von Tieren)‹.

abreiten [...] 3. ›(ein Tier) zuschanden reiten [...]‹; in obszöner Verwendung auf den Menschen bezogen.

abnehmen [...] 1. [...] a). ›an Macht und Ansehen verlieren, wirtschaftlich, politisch usw. herunterkommen, abnehmen (von Personen und Personengruppen als Funktionsträgern [...])‹; b). ›niedergehen, verfallen, geschwächt werden (von Herrschaftsgebilden [...])‹; c). ›in Verfall kommen, sich abnutzen (von Gegenständen oder Sachverhalten)‹; d). ›an Wert verlieren (von der Münze)‹.

abmähen [...] 1. ›etw. (Gras o. ä., mit Verschiebung des Objekts: Wiesen o. ä.) abmähen‹.

ablassen [...] 15. ›(Flüssigkeiten, vor allem Wein) abzapfen, abfüllen, umfüllen‹; mit Verschiebung des Objekts: ›(Fässer o. ä.) leeren, umfüllen‹.

(3) mehrere Modalitäten von Handlungen, Vorgängen, Zuständen, vgl. z. B.

abbrechen [...] 2. ›etw. (z. B. Gebäude) mit Gewalt abreißen‹.

3. ›etw. fachmännisch abbrechen, (um es an anderer Stelle wieder aufzubauen)‹.

(4) alle Resultativa, vgl. z. B.

abgehen [...] 17. ›schwinden, abhanden kommen, sich mindern [...]‹.

18. ›untergehen, zu Grunde gehen, zu bestehen aufhören‹.

(5) alle Übertragungen, vgl. z. B.

abmähen [...] 1. ›etw. [...] abmähen‹.

2. ›etw. zunichte machen, zerstören‹.

2abmalen [...] 1. ›etw. zeichnerisch darstellen [...]‹.

2. ›[...] etw. sinnbildlich darstellen‹.

(6) alle Euphemismen, vgl. z. B.

abgehen [...] 6. ›weggehen, sich wegbegeben, sich entfernen [...]‹.

12. [...] ›sterben (von Menschen) [...]‹.

abscheiden [...] 1. ›weggehen, Abschied nehmen, abreisen [...]‹.

2. ›sterben, verscheiden‹.

(7) alle Metonymien, vgl. z. B.

abfart [...] 2. ›Abgang von einem Besitztum, Aufgabe eines solchen‹.

3. ›die beim Abgang von einem Besitztum zu entrichtende Gebühr‹.

abenteuer [...] 1. ›[...] ritterliche Bewährungsprobe‹.

2. ›[...] Trophäe, Siegesbeweis [...]‹.

(8) alle Synekdochen, vgl. z. B.

abdanken [...] 1. ›jm. beim Abschied für seine Tätigkeit rechtsfömlich danken‹; als Synekdoche: ›jn. verabschieden, entlassen‹.

3. ›das Dankgebet (nach Beendigung der Mahlzeit) sprechen‹; als Synekdoche: ›aufbrechen, sich verabschieden‹.

abkerbung [...] ›Einschnitt in ein Kerbholz zum Zwecke der Berechnung [...] von etw. [...]‹; als Synekdoche: ›Berechnung, Anschreibung, Schuldbuchung‹.

(9) Übergangsbereiche zwischen freien Wortverbindungen und Phrasemen, vgl. z. B.

absträlen [...] ›jm. etw. abkämmen [...]‹; ral. jm. die flöhe absträlen ›jm. eine Tracht verabreichen‹.

Dagegen wird in folgendem Beispiel das Phrasem in einer eigenen Bedeutungsposition erläutert:

abstreichen [...] 4. ral. jm. die flöhe abstreichen o. ä. ›jn. prügeln, jm. eine Tracht verabreichen‹.

12.6.2. Ich habe die Einzelbedeutungen (Sememe) nicht durch linguistische Analyseprozeduren gewonnen und von anderen abgegrenzt; ich habe also die einzelnen Wortbelege nicht vor jeder semantischen Interpretation streng philologisch z. B. auf ihren Isotopieplatz im Textzusammenhang, auf ihr Vorkommen in den im Frühneuhochdeutschen ja besonders üblichen Mehrfachformeln, auf ihre syntaktische Distribution, auf ihr Wortbildungsverhalten, auf textliche Onomasiologiezusammenhänge usw. untersucht und auf Grund solchen Datenmaterials so etwas wie eine semantische Komponentenanalyse vorgenommen, als deren Ergebnis dann nachprüfbar und verbindlich abgegrenzte Einzelbedeutungen zustande gekommen seien. Ich teile auch nicht den Optimismus104104. Dieser Optimismus kennzeichnet viele Beiträge des Sammelbandes: Schildt, Joachim/Viehweger, Dieter (Hrsg.), Die Lexikographie von heute und das Wörterbuch von morgen. Analysen – Probleme – Vorschläge. Berlin 1983. (Linguistische Studien. Reihe A. Arbeitsberichte 109); man vgl. z. B. S. 25–26; 160–163. vieler Semantiker, mit Hilfe solcher Analyseprozeduren irgendwann einmal das Sememinventar einer Sprache, die Struktur des Wortschatzes schlechthin oder etwas ähnlich Fertiges gewinnen zu können. Bei der bisherigen Bearbeitung des Wörterbuches wurden Analyseprozeduren nur dann vorgenommen, wenn ein Wort vollständig oder weitgehend unbekannt war; es blieb dann in der Regel auch unbekannt oder führte zu einem linguistisch begründeten Teilwissen der Art, daß das Wort auf einen Gegenstand, einen Vorgang oder ähnlich Generisches Bezug nehme, aber das weiß man auch als Nicht-Linguist bereits nach erstmaliger Textlektüre.

12.6.3. Ich habe die Einzelbedeutungen auf der Basis meines sprachkulturellen Wissens, darunter auf der Basis meines Verständnisses frühneuhochdeutscher Texte gewonnen und gegeneinander abgegrenzt. So wie im Abschnitt über die Teilschritte der Lemmatisierung (vgl. 8.1.1.1.) gesagt wurde, die Worteinheit werde vom Lexikographen aufgrund seines intuitiv-lingualen Wissens als solche erst einmal konstituiert (bevor sie einer linguistischen Prüfung unterzogen werde), so wird hier behauptet, daß die einzelnen Wortbelege sich in einer qualitativ normalsprachlich-reflexiven Klassifikation vor jeder linguistischen Operation deshalb zu Gebrauchsweisen, d. h. aber zu Einzelbedeutungen, gruppieren, weil man als Sprecher und als Rezipient von Varietäten des Deutschen über vorgängige Unterscheidungskriterien verfügt.

12.6.4. Selbstverständlich ist das sprachkulturelle Wissen des Lexikographen eine stark von seiner Bildungsgeschichte abhängige Größe. Die Abhängigkeit kann langfristig und sozial begründet sein; der mitteleuropäische Lexikograph gehört der Sozialgruppe der geschichtlich und sprachlich durch Höhere Schule, Universität und akademisches Berufsleben Geschulten an. Er wird deshalb eher da prädisponiert sein, Bedeutungsunterschiede zu sehen und weiterzuvermitteln, wo das sprachliche und kulturelle Wissen durch die Bildungsinstanzen der eigenen Gruppe besonders sensibilisiert ist; er neigt umgekehrt zu Zusammenfassungen, wo bestimmte Kulturbereiche außerhalb des Interesses seiner Bildungsgruppe liegen. Am Beispiel erläutert: Ein Germanist wird die in Spätmittelalter und früher Neuzeit fortlebenden Kennwörter der Höfik (wie abenteuer, arbeit, ere, minne usw.) feinmaschiger subgliedern als zum Beispiel den sich entwickelnden technischen Wortschatz, zu dem er von seiner Ausbildung her kein besonderes Verhältnis haben dürfte. – Auch kurzfristig kann das sprachkulturelle Wissen des Lexikographen variieren. Man merkt bereits nach der Bearbeitung einer relativ kurzen Wörterbuchstrecke, daß sich immer wieder Unterscheidungen ergeben, wo man vorher nur eine Einheit gesehen hat. Mir persönlich ist zum Beispiel erst bei der Bearbeitung von Verben wie abgrasen, abmähen klargeworden, daß hiermit einmal auf die Fläche und einmal auf das auf der Fläche Stehende Bezug genommen werden kann105105. Zur Erscheinung: Oksaar, Els, Zur Subjekts- und Objektsvertauschung. Ein syntaktisch-semantisches Erklärungsmodell. In: Festschrift für Siegfried Grosse zum 60. Geburtstag. Hrsg. v. Werner Besch/Klaus Hufeland/Volker Schupp/Peter Wiehl. Göppingen 1984, 175–182. (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 423)., daß also Verwendungsweisen vorliegen, für die es jeweils eigene Feldzusammenhänge geben kann.

12.6.5. Die Rolle, die dem sprachkulturellen Wissen für die Identifikation und Abgrenzung von Einzelbedeutungen hier zugeschrieben wird, ist keineswegs als Eingeständnis gemeint, das entschuldigt und durch vermeintlich objektivierbare Verfahren ersetzt werden müßte. Es ist vielmehr gemeint als etwas in der kulturpädagogischen Tätigkeit ‚Lexikographie‘ Unhintergehbares und deshalb zu Akzeptierendes. Im übrigen ist es das einzige Verfahren, das einen Anschluß an die Informationsinteressen der antizipierten Benutzer des Wörterbuches ermöglicht. Diese stehen nämlich in der gleichen Bildungstradition wie der Lexikograph. Dadurch daß die sozial- und bildungsgeschichtlich geprägten Mitteilungsabsichten des Lexikographen den Informationsinteressen von Wörterbuchbenutzern weitgehend entsprechen (vgl. auch 6.4.3.6.), wird es dem Lexikographen überhaupt erst möglich, Selektionen und Gewichtungen vorzunehmen, die erstens als solche erkannt und zweitens akzeptiert/zurückgewiesen/diskutiert werden. In diesem Faktum liegt auch der Grund für den in Abschnitt 12.4.1. behandelten einfachen, d. h. an das Vorwissen des Benutzers anknüpfenden Typ der Bedeutungserläuterung.

12.6.7. Wenn die Identifikation und Abgrenzung von Einzelbedeutungen, damit ihr Ansatz im Wörterbuch auch nicht mit einem schlechten methodischen Gewissen erfolgen, so können sie zunächst doch nur den Status von Vorschlägen, von Klassifizierungsangeboten haben. Als solche bedürfen sie der Begründung. Diese führt allerdings wiederum nicht zu so etwas wie Unbestreitbarkeit, Endgültigkeit usw. des Ergebnisses, sondern sie ist selbst (wissenschaftliche) Handlung, deshalb bildungs- und sozialgeschichtlich bedingt und im Hinblick auf den Adressaten intentional. In die Begründung gehen nun all diejenigen Verfahren ein, die vorhin als Analyseprozeduren so skeptisch beurteilt wurden, die als Verifikationsprozeduren aber einen erheblichen Wert haben, und zwar einen um so größeren Wert, je größer das sprachkulturelle Wissen des Lexikographen ist, anders ausgedrückt, je mehr er in die Texte der lexikographisch zu beschreibenden Zeit eingelesen ist.

12.6.8. Im folgenden werden die wichtigsten Verfahren zunächst zusammenfassend genannt, danach etwas ausführlicher erläutert und mit Beispielen veranschaulicht: es werden idealiter genau so viele Einzelbedeutungen angesetzt, wie sich für ein Wort (1) je besondere onomasiologische Feldzusammenhänge und/oder (2) je besondere Gegensatzwörter und/oder (3) je besondere syntagmatische Verbindungen und/oder (4) Wortbildungsparallelen und/oder (5) Entsprechungen im semasiologischen Feld anderer Wörter nachweisen lassen. Im Detail:

(1) Die Identifikation, Abgrenzung (usw.) von Einzelbedeutungen kann dann als begründet gelten, wenn für die in Frage stehende Einzelbedeutung ein zumindest partiell eigenes onomasiologisches Feld nachweisbar ist. Die Bedingung ‚partiell eigen‘ ist sicher dann erfüllt, wenn für die Einzelbedeutung eine oder mehrere übergeordnete lexikalische Einheiten vorliegen, die für die anderen Einzelbedeutungen nicht nachweisbar sind. So gibt es für abenteuer 1 die genera kampf, streit, für abenteuer 2 die genera preis, belonung. Die Bedingung kann aber auch dann als erfüllt angesehen werden, wenn das Spektrum der Kohyponyme Unterscheidungen zuläßt, wie dies z. B. mit buhurt, turnei, freise (für abenteuer 1) gegenüber arbeit, abschach(t), krieg (für abenteuer 3) der Fall ist oder wie es für abgang, (be)schmälerung, kummer, nachteil, schade usw. (für abbruch 3) gegenüber abstinenz, enthaltung, entziehung, mas usw. (für abbruch 4) kaum bestritten werden kann.

(2) Die Identifikation, Abgrenzung (usw.) von Einzelbedeutungen kann als begründet gelten, wenn für die in Frage stehende Einzelbedeutung partiell spezifische Gegensatzwörter106106. Gegensatzwort gilt hier als zusammenfassender Terminus für Komplonymie und Antonymie. Zu deren Unterscheidung vgl. man z. B.: Lyons, John, Einführung in die moderne Linguistik. 3., durchgesehene Aufl. München 1973, S. 471–478; vgl. auch Abschnitt 14.1. (9). nachweisbar sind. Die Bedingung ‚partiell spezifisch‘ ist sicher dann erfüllt, wenn ein direktes Komplenym oder eine der Komplenymie verdächtige lexikalische Einheit vorliegt, wie es mit erbauung für abgang 7 ›Verfall‹ gegenüber gewinst für abgang 10 ›Verlust‹ der Fall ist. Die Bedingung kann aber auch dann als erfüllt betrachtet werden, wenn die vorhandenen Antonyme Unterscheidungen zulassen. Dies scheint mir der Fall zu sein für arbeit 1 mit ruhe, freude, friede, lust im Gegensatz zu arbeit 6, für das es zusätzliche Antonyme, darunter müssiggang, wolleben, feiern gibt; sie unterscheiden sich von denjenigen für arbeit 1 durch eine negative ethische Wertkomponente.

(3) Die Identifikation, Abgrenzung (usw.) von Einzelbedeutungen kann als begründet gelten, wenn für die in Frage stehende Einzelbedeutung partiell eigene syntagmatische Verbindungen belegt sind. Auch diese Bedingung kann wieder verschieden weitgehend erfüllt sein. Die Syntagmen mit tod/von todes wegen/one erben abgehen zu abgehen 12 ›sterben‹ haben mit den Syntagmen von abgehen 16 ›verfallen, verderben‹, nämlich das erbe/haus/gut/der weg/zaun/die habe/scheuer (jeweils Subjekt) abgehen keinen Überlappungsbereich; letztere Gruppe weist einen solchen aber durchaus zu den Syntagmen von abgehen 18 ›untergehen‹ auf, nämlich die stat/welt/gewonheit/kunst (jeweils Subjekt) abgehen, was die Bedeutungsabgrenzung unter diesem Aspekt problematisch macht.

(4) Die Identifikation, Abgrenzung (usw.) von Einzelbedeutungen kann als begründet gelten, wenn sich im Signifikat zugehöriger Wortbildungen ähnliche Ansätze (aus welchen Gründen auch immer) nahelegen. Man vgl. die partielle semantische Parallelität der jeweils in Betracht kommenden Morpheme folgender Wortbildungsfelder im Wörterbuchtext:

abbreche, abbrechen, abbrecher, abbrecherei, abbrechung, abbruch, abbrüchig, abbrüchigkeit,

abbrüchlich, abbrüchlichkeit;

abfar, abfaren, abfarer, abfart;

abgang, abgänger, abgängig, abgängisch, abgänglich, abgehen.

(5) Die Identifikation, Abgrenzung (usw.) von Einzelbedeutungen kann als begründet gelten, wenn sich im Signifikat anderer Wörter entsprechende Unterscheidungen nahelegen. Man vgl. z. B. die Parallelität von

abend [...] 1. ›Abend [...]‹. 3. [...] als Abendgruß [...]. 5. ›Westen‹ mit später zu bearbeitendem

morgen [...] 1. ›Morgen‹. x. [...] als Morgengruß [...] y. ›Osten‹.

Weitgehende Feldparallelität gibt es relativ häufig (vgl. noch abgehen/abkommen/abscheiden/abtreten, ferner z. B. 2abreiten/abrechen), vor allem immer dann, wenn bestimmte priorisierte tertia comparationis107107. Dazu vor allem Kubczak, Hartmut, Die Metapher. Beiträge zur Interpretation und semantischen Struktur der Metapher auf der Basis einer referentialen Bedeutungsdefinition. Heidelberg 1978. (bei Metaphern), bestimmte Sachzusammenhänge (bei Metonymien und Synekdochen, vgl. obiges abend) statt zur Metapher/Metonymie/Synekdoche von Einzelwörtern zu solchen mehrerer Wörter führen, so daß ganze Metaphern-, Metonymien-, Synekdochenreihungen entstehen; man vgl. z. B. die metaphorischen Bedeutungen ›sterben/verenden‹ und ›ein Amt aufgeben‹ von abgehen, 2abkeren, abkommen, abscheiden, abstehen oder die jeweils metonymische Verwendung von Wörtern wie abfart, ableite, abschied für eine beim Weggang von einer Tätigkeit zu bezahlende Gebühr.

12.6.9. Obwohl die genannten Verfahren der Begründung von Bedeutungsansätzen vor allem dann, wenn sie miteinander kombiniert werden, eine erhebliche Leistungsfähigkeit haben, sollte man sich doch nicht der Illusion hingeben, als könne der Lexikograph für jeden einzelnen Ansatz eine Begründungsformulierung geben.

Dies läßt schon der Stand der Übersicht über den Wortschatz, den der Lexikograph vor Ort hat, nicht zu. Ihm liegt bei der Bearbeitung eines Artikels zunächst pro Wort nur ein Stapel von Belegzetteln vor, im Karteikasten befindet sich Belegmaterial für eine bestimmte Wörterbuchstrecke, die Computerregister enthalten Schreibformen über das gesamte Alphabet; prinzipiell ist also der Zugang zum Gesamtwortschatz gewährleistet. Nur ist die Ausarbeitung von Wörterbuchartikeln eine Tagesarbeit, die sich nicht an jeder verdächtigen Stelle zu einer lexikologischen Detailuntersuchung ausweiten darf. Sogar die von einem einzigen Bearbeiter ausformulierte Strecke ist diesem nur an markanten Punkten bewußt. Es kann also nicht nur vorkommen, sondern wird geradezu die Regel sein, daß sowohl onomasiologische Felder als auch Gegensatzwörter als auch Syntagmen als auch Wortbildungszusammenhänge (mindestens viele linksläufigen, vgl. 16.2.) und schließlich Signifikatparallelen dem Lexikographen wegen des Exzerptionsstandes nicht vollständig bekannt sind oder ihm nicht mehr im Gedächtnis haften. Dies zu ändern, ist organisationstechnisch sicher möglich (vollständige Exzerption, Kontrollverfahren für das Erläuterungsvokabular usw.), nur stehen dem Frühneuhochdeutschen Wörterbuch weder die personellen noch die finanziellen Mittel dazu zur Verfügung.

Es kommt hinzu, daß die genannten Verfahren immer dann nicht greifen, wenn die Strukturbezüge, auf denen sie beruhen, nicht nur für eine, sondern für mehrere Einzelbedeutungen gelten. An einem einfachen Beispiel erläutert: abfahrt 2 ›Abgang von einem Besitztum‹ hat als Gegenwort auffart ›Antritt, Übernahme eines Besitztums‹; abfart 3 ›[...] Gebühr‹ steht im Metonymieverhältnis zu abfart 2, läßt daher andere Gegenwörter erwarten; stattdessen findet sich aber ebenfalls auffart, das seinerseits im Metonymieverhältnis zu auffart im gerade erläuterten Sinne steht; man vgl. folgendes Strukturschema:

Abb. 18: Parallelen im Bedeutungsspektrum von Wörtern als Problem der Abgrenzung der Einzelbedeutungen

Das Verfahren, abfart 2 von abfart 3 auf Grund von Gegensatzwörtern abzugrenzen, versagt also. Ähnliches gilt mit jeweils partiell anderer Begründung für die übrigen Verfahrensweisen.

Noch gewichtiger scheint mir ein Drittes: Wenn eine linguistische Begründung, so wie sie hier konzipiert wird, eine sprachliche Handlung ist, dann hat sie gegenüber der alltäglichen sprachreflexiven Klassifikation von Bedeutungen keine grundsätzlich andere Qualität; sie ist nicht etwas qualitativ vollständig Anderes als das, was in sprachreflexiven Situationen des Alltags auf unterschiedlichem Niveau jederzeit geschieht; sie führt auch nicht zu einer ein für allemal gesicherten, richtigen, vollständigen usw. Erläuterung von Bedeutungen. Sie kann dies nicht nur deshalb nicht leisten, weil es absolut wohlbestimmte Bedeutungen nicht gibt, sondern auch deshalb nicht, weil die linguistische Begründung selbst auf lingualen und kulturellen Urteilen beruht; sie wird insofern in vielen Fällen sogar bei einem lingualen Urteil des Typs „dies gehört inhaltlich eng/weniger eng/kaum/nicht sinnvoll/überhaupt nicht zusammen“ stehenbleiben. Dies ist auch der Grund dafür, daß hier vorwiegend die fachsprachlichen Formulierungsmuster kann als begründet gelten, nachweisbar sein, kann als erfüllt betrachtet werden, wenn sich nahelegt, etw. läßt Unterscheidungen zu verwendet wurden. Es sind Muster, die den Lexikographen zwar elliptisch ausklammern, die dies aber deshalb tun können, weil durchgehend mit ihm gerechnet wird. Sie sollen die Gestaltungsmöglichkeiten, die der Lexikograph hat, bereits in der Fachsyntax sichtbar machen; sie sollen zeigen, daß man sowohl begründet sagen kann: „Ich setze die Bedeutung A als eine eigene gegenüber der Bedeutung B an“ wie man sagen kann „Ich nehme A und B zusammen“.

12.6.10. Dazu gibt es außer den diskutierten Kriterien auch andere, z. B. quantitative: Je häufiger eine Verwendungsvariante belegt ist, desto eher neigt man zu einem eigenen Bedeutungsansatz. Ferner und vor allem aber sind es außerlinguistische Kriterien der kulturpädagogischen Gewichtung, die für jede Lexikographie eine dominierende Rolle spielen.

12.6.11. Um die vielen Entscheidungsfälle, die trotz aller vorgetragenen linguistischen und außerlinguistischen Kriterien begegnen, als solche kennbar zu machen, wurden innerhalb einer einzigen Bedeutungsposition zwei unterschiedliche graphische Mittel verwendet, erstens das Komma und zweitens das Semikolon. Die durch Kommata abgetrennten Erläuterungsteile sind sprachlich jeweils unterschiedlich gestaltete Annäherungsformulierungen für etwas, das als semantische Einheit aufgefaßt wird. Die durch Semikolon abgetrennten Erläuterungsteile, die ihrerseits wieder aus durch Kommata gegliederten Subteilen bestehen können, sind Erläuterungen für etwas, dem der Status einer Variante einer semantischen Einheit zugeschrieben wird. Kommata und Semikola innerhalb der Bedeutungserläuterung sind also beschreibungssprachliche Symbole.

12.7. Die artikelinterne Ordnung der Einzelbedeutungen

Die Frage nach der artikelinternen Ordnung der Einzelbedeutungen wird in Wörterbucheinleitungen in aller Regel angeschnitten und auch für synchrone Wörterbücher durch Entscheidungen der folgenden Art beantwortet:108108. Die folgende Aufzählung kombiniert Antworten aus verschiedenen größeren Wörterbüchern, z. B. Duden, GWB; Duden, UWB; Brockhaus Wahrig; die unter 6.2.4. genannten Mundartwörterbücher; man vgl. ferner schon die Vorwörter der großen älteren Wörterbücher, z. B. Adelung und DWB. – Theoretisch zuletzt: Kipfer, Barbara A., Methods of Ordering Senses within Entries. In: LEXeter ’83 Proceedings [vgl. Anm. 87], 100–108.

(1) Die eigentliche Bedeutung steht vor der abgeleiteten, z. B. vor den (lexikalisierten oder auf dem Wege zur Lexikalisierung befindlichen) tropischen Verwendungen.

(2) Die allgemeinere Bedeutung steht vor den spezielleren.

(3) Die kontretere Bedeutung steht vor den abstrakteren.

(4) Die häufiger belegte Bedeutung steht vor den weniger häufig belegten.

(5) Die sprachsoziologisch breiter dimensionierte Bedeutung steht vor den enger dimensionierten, z. B. gruppenspezifischen, geographisch eingeschränkten, veralteten Bedeutungen.

(6) Die sprachsoziologisch gehobene, als Leitbild verstandene Bedeutung steht vor den nicht leitbildhaften Bedeutungen.

(7) Die historisch ältere Bedeutung steht vor den historisch jüngeren.

(8) Inhaltlich (unter welchen Aspekten auch immer) zusammengehörige Bedeutungen stehen vor den weniger deutlich zusammengehörigen.

Hier sollen die Attribute eigentlich, abgeleitet, allgemein, konkret usw. nicht problematisiert werden, da sie zur Charakterisierung des jeweils Gemeinten ausreichen. Es soll auch nicht auf die partielle Unvereinbarkeit der einen mit der anderen Antwort, auf Überlappungen usw. eingegangen werden. Es geht vielmehr darum zu formulieren, wie in Kenntnis der in der Metalexikographie angebotenen Antworten im Frühneuhochdeutschen Wörterbuch verfahren wird.

12.7.1. Dazu sei in Erinnerung gerufen, daß das Frühneuhochdeutsche Wörterbuch ein synchrones Bedeutungswörterbuch einer historischen Sprachstufe ist (vgl. 3.1.); weiterhin sei daran erinnert, daß es ein normatives Leitbild, wie es seit dem 18. Jahrhundert existiert oder auch im klassischen Mittelhochdeutschen vorlag, höchstens ansatzweise und gegen Ende der Epoche gab (vgl. 5.1.). Geringere und größere sprachsoziologische Breite der einzelnen Wörter und Wortbedeutungen hat es selbstverständlich gegeben, aber sie ist linguistisch wegen mehrstufiger Filter nur unzureichend nachweisbar: eingeschränkte schriftliche Fixierung gesprochener Sprache, geringer Erhaltungsgrad des Fixierten, nur teilweise Edition des Erhaltenen, nur partielle Berücksichtigung des Edierten im Quellencorpus. Auch das Argument der Beleghäufigkeit verliert durch diese Relationen an Gewicht. Nimmt man dies alles zusammen, so werden die Anordnungskriterien (4), (5) und (6) zwar nicht hinfällig; sie können für Einzelwörter immer einmal zum Tragen kommen, sind aber für die Anordnung der großen Masse von Bedeutungen nicht ausschlaggebend.

Leitprinzip der Bedeutungsanordnung ist vielmehr das Kriterium (8) der (immer aspektuellen) inhaltlichen Zusammengehörigkeit, das mit den Kriterien (1), (2) und (3) kompatibel ist. Bei seiner Anwendung entstehen Blöcke zusammengehöriger Bedeutungen, man vgl. als Beispiel abbrechen [...] 1. ›e. S. von einer anderen abbrechen, trennen, losreißen‹; auch ›abbröckeln, zerbröckeln‹, dem sich unter den Nummern 2–7 speziellere Bedeutungen anschließen. In anderen Fällen sind es tropische Verwendungen, die sich mit einer eigentlichen Bedeutung zu einem solchen Block zusammenstellen lassen.

Dann ergibt sich (insbesondere bei hochgradig polysemen Wörtern) natürlich die Frage, wie man erstens die Bedeutungen innerhalb der Blöcke und zweitens die Blöcke selber ordnet. Auch wenn in beiden Fällen oft wieder die inhaltliche Nähe Entscheidungshilfen bietet, so bleibt doch vieles unentscheidbar. Am Beispiel abschlagen erläutert: Die Bedeutungen 1–12 können unter dem gemeinsamen Merkmal ›schlagen‹ zusammengefaßt werden. Geht man davon aus, daß dies der Block ist, der sich um die als „eigentlich“ auffaßbaren Bedeutungen 1 und 2 gruppiert, so wird man deren Position am Anfang der Reihe und entsprechend die Position des Gesamtblockes nicht in Frage stellen. Die Bedeutungen 15–17, die irgendetwas mit ›vermindern‹ zu tun haben, der Block 18–21, der durch ›Richtung verändern‹ kennzeichenbar ist, und der Block 22–26, der auf ablehnendes Handeln Bezug nimmt, sind dagegen in ihrer internen Anordnung wie in ihrer Anordnung zueinander nicht so zu begründen, daß man sagen könnte: Diese Ordnung hat Vorrang vor jeder anderen. Bei abschlagen versagt auch das Kriterium (7) ‚relatives Alter der Bedeutungen‘.

12.7.2. Mit dem relativen Alter der Bedeutungen ist ein Gesichtspunkt angesprochen, der in einem synchron konzipierten Wörterbuch im strengen Sinne keine Rolle spielen dürfte, der aber vom Wörterbuchbenutzer in Konsequenz vieler aufklärerischen und zahlreicher romantischen und sonstigen Sprachgeschichtstheorien109109. So sagt Jacob Grimm im Vorwort des DWB, S. XLV: „Hinter allen abgezognen bedeutungen des worts liegt eine sinnliche und anschauliche auf dem grund, die bei seiner findung die erste und ursprüngliche war [...]“. Es ist nach Joachim Bahr 1984, S. 500 (vgl. Anm. 52) das Prinzip ‚konkret/physisch‘ zu ‚abstrakt/psychisch‘. mit einiger Wahrscheinlichkeit als Grundlage von Bedeutungsstrukturierungen des Typs ‚eigentlich/abgeleitet‘, ‚allgemeiner/spezieller‘, ‚konkreter/abstrakter‘ interpretiert wird: Die jeweils zuerst stehende Bedeutung erscheint danach als die historisch ältere, abfal ›das Fallen, Herabhängen von etw.‹ würde z. B. als älter verstanden als die Metonymien ›Wehr‹ oder ›Abhang im Gelände‹. Um solcher Fehlinterpretation vorzubeugen, ist prinzipiell zu sagen, daß die Reihung (als solche) der Bedeutungen keine auch noch so versteckte Aussage über ihr Alter, d. h. über das Alter ihrer Belegbarkeit, enthält. Auch kommentarsprachliche Ausdrücke des Typs Metonymie zu 1 (wie bei abfal 2 und 3) sind ausdrücklich nicht als entwicklungsbezogene Aussagen gemeint, sondern als Erläuterungen semantischer Bezüge; sie können sich im Einzelfall in der Tat geschichtlich dokumentieren lassen, in anderen Fällen z. B. sprachgeographisch oder -soziologisch; dies festzustellen aber ist Aufgabe einer eigenen Artikelposition, nämlich der Symptomwertangaben (vgl. 13.).

12.7.3. Dies alles besagt wiederum nicht, daß die Anordnung der Bedeutungen nicht auch einmal nach zeitlichen Gesichtspunkten (entsprechend auch: nach räumlichen oder sonstigen Heterogenitätsdimensionen) erfolgen kann. So stehen bei abenteuer diejenigen Bedeutungen am Anfang der Reihe, die auf den höfischen Bereich bezogen sind; am Ende stehen diejenigen, die nur aus dem bürgerlichen Spätmittelalter erklärbar sind; bei arbeit bildet die allgemeine Bedeutung ›Qual, Mühe‹ den Anfang, es folgen die daran anschließbaren Spezialisierungen, und erst dann folgt eine Verwendungsweise, die mit neuhochdeutschem Arbeit weitgehende Ähnlichkeit hat. Entscheidend in all diesen Fällen ist aber, daß das relative Alter der Bedeutungen nicht aus ihrer Aufeinanderfolge im Wörterbuchartikel oder aus relationskommentierenden Ausdrükken herausgelesen werden darf, sondern ausschließlich aus den Symptomwertangaben.

12.7.4. Die Reihenfolge der Bedeutungen von Ableitungen richtet sich nach der Reihenfolge der Bedeutungen der Ableitungsgrundlage, sofern nicht spezifische Bedeutungskonstellationen der Ableitungen, wie sie z. B. durch tropische Verwendungen gegeben sein können, eine Modifikation dieser Folge nahelegen und sofern nicht durch Lücken in der Norm (als Gegensatz zu: System) der Wortbildungen spezifische inhaltliche Zusammengehörigkeiten (im Sinne von 12.7.1.) oder besondere zeitliche Folgeverhältnisse (im Sinne von 12.7.3.) abgebildet werden sollen. Als Beispiele für die Dominanz des Regelprinzips ‚Bedeutungsfolge bei Ableitungen = Bedeutungsfolge der Ableitungsgrundlage‘ vgl. man abgang mit abgehen, ablas mit ablassen, abscheid mit abscheiden, abschlag mit abschlagen. Eines dieser Beispiele sei verkürzt vorgeführt:

| abscheid | Wortbildungshinweis | | --- | --- | | 1. ›Abschied, Weggang [...]‹ | zu abscheiden 1. | | 2. ›Tod [...]‹ | zu abscheiden 2. | | 3. ›Entlassung [...]‹ | zu abscheiden 3. | | 4. ›das Dokument [...]‹ | ohne Hinweis, da abscheid 4 eine Metonymie zu abscheid 3 ist. |