2. Zum Stand der lexikographischen Aufarbeitung des Frühneuhochdeutschen

Man sollte meinen, dass eine Epoche von so umfassender Bedeutung für die gesamte Neuzeit bis zur Gegenwart hin eine gediegene sprachgeschichtliche Aufarbeitung erfahren habe. Dies ist allerdings höchstens für einige Teilbereiche der Phonologie, Graphematik und Morphologie des Frühneuhochdeutschen, viel weniger für die Syntax und die Textformen, nahezu überhaupt nicht für die Lexik geschehen.

2.1. Für das lexikographisch ebenfalls unzureichend beschriebene Mittelhochdeutsche gibt es immerhin zwei dreibändige gesamtsystembezogene Wörterbücher (von Benecke/Müller/Zarncke und von Lexer), einige einzeltextbezogene22. Gemeint sind die Wörterbücher von Sauer-Geppert; Schieb; Bulst; Riemer; Benecke; Hornig; Lübben; Bartsch. Wörterbücher sowie Ansätze einer landschaftsbezogenen33. Gedacht ist hier an Jelinek, dessen Material allerdings bis zum Beginn des 16. Jahrhunderts reicht. Lexikographie, außerdem eine relativ große Anzahl von Indices Verborum 44. Verzeichnet bei Gärtner, Kurt/Kühn, Peter, Indices und Konkordanzen zu historischen Texten des Deutschen: Bestandsaufnahme, Typen, Herstellungsprobleme, Benutzungsmöglichkeiten. In: Sprachgeschichte 1, 1984, 620–624. und Konkordanzen insbesondere zu den herausragenden Werken der klassischen Dichtung. Die Lexik des Neuhochdeutschen ist relativ umfassend, vor allem im Deutschen Wörterbuch55. Das DWB wird hier deshalb herausgehoben, weil es das 15. und 16. Jahrhundert, vor allem die sprachgeschichtlich wirksamen Autoren dieser Zeit, eingehend berücksichtigt. Vgl. auch das Urteil in 6.2.4. Ferner: Kirkness, Alan, Geschichte des Deutschen Wörterbuches. 1838–1863. Dokumente zu den Lexikographen Grimm. Mit einem Beitrag von Ludwig Denecke. Stuttgart 1980. von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm (DWB), aber auch in den Werken von D. Sanders, M. Heyne, F. L. K. Weigand / H. Hirt, H. Paul, R. Klappenbach / W. Steinitz, G. Wahrig, in Trübners Deutschem Wörterbuch, im Großen Wörterbuch der deutschen Sprache (Duden, GWB.), im Deutschen Universalwörterbuch (Duden, UWB.), im Brockhaus Wahrig und im Handwörterbuch der deutschen Gegenwartssprache66. Bibliographisch werden diese Werke im Verzeichnis der Sekundärliteratur dieses Bandes aufgeführt., unter Einzelaspekten in einer kaum überschaubaren Anzahl von Spezialwörterbüchern beschrieben worden77. Bibliographie bei Kühn 1978.. Mit dieser Aussage sollen natürlich erhebliche Lücken, vor allem auf dem Gebiet onomasiologischer Wörterbücher und der Autorenlexikographie, nicht geleugnet werden, und es sollte vor allem kein generelles positives Qualitätsurteil gefällt werden.

2.2. Es waren insbesondere die im Vergleich zum Mittelhochdeutschen viel größere Menge von Texten des Frühneuhochdeutschen, deren unzureichende Erschließung durch Editionen und ihre nach den im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gängigen Kriterien literarischer Wertung mangelnde Gestaltungsqualität, die eine dem Mittelhochdeutschen entsprechende lexikographische Erschließung des Frühneuhochdeutschen verhindert haben. An gesamtsystembezogenen Wörterbüchern sind lediglich die folgenden zu nennen:

Diefenbach, Lorenz, Glossarium Latino-Germanicum Mediae et Infimae Aetatis e codicibus manuscriptis et libris impressis concinnavit (L. D.). Francofurti ad Moenum 1857. (Supplementum Lexici Mediae et Infimae Latinitatis). [Unveränderter reprographischer Nachdruck Darmstadt 1968.] Es ist ein zweisprachiges, nach lateinischen Lemmata alphabetisch geordnetes, überwiegend semasiologisches, stark varietätenbezogenes Wörterbuch u. a. zum Gesamtfrühneuhochdeutschen.

Diefenbach, Lorenz, Novum Glossarium Latino-Germanicum Mediae et Infimae Aetatis. Beiträge zur wissenschaftlichen Kunde der neulateinischen und der germanischen Sprachen. Frankfurt 1867. [Neudruck Aalen 1964.] Es gleicht in der Anlage dem vorstehend genannten Wörterbuch, als dessen Ergänzung und Berichtigung es auch gedacht ist.

Goetze, Alfred, Frühneuhochdeutsches Glossar. 7. Aufl. Berlin 1967. (Kleine Texte für Vorlesungen und Übungen 101): ein frühneuhochdeutsch-neuhochdeutsches, alphabetisch geordnetes, semasiologisches Wörterbuch von sehr beschränktem Umfang (240 Seiten).

2.3. Da Diefenbachs Glossarium Latino-Germanicum die Zugangsmöglichkeit vom deutschen Wortbestand her fehlt und da Goetzes Glossar höchstens eine erste Nachschlagehilfe zur graphischen und semantischen Identifikation insbesondere von Wörtern einiger nicht allgemeinsprachlicher Wortschatzbereiche bietet, ist der an der Lexik des Frühneuhochdeutschen interessierte Wörterbuchbenutzer gezwungen, entweder ausgehend von den beiden großen Wörterbüchern des Mittelhochdeutschen oder aber ausgehend von den entwicklungsbezogenen Wörterbüchern des Neuhochdeutschen (vor allem vom Deutschen Wörterbuch der Brüder Grimm, von Diefenbach/Wülcker88. Diefenbach, Lorenz/Wülcker, Ernst, Hoch- und niederdeutsches Wörterbuch der mittleren und neueren Zeit. Zur Ergänzung der vorhandenen Wörterbücher, insbesondere des der Brüder Grimm. Basel 1885. [Nachdr. Hildesheim 1965]., aber auch von entwicklungsbezogenen Dialektwörterbüchern99. Gemeint sind vor allem: Vilmar; Crecelius; Kehrein, Nassau; Shess. Wb.; Pfälz. Wb.; Thür. Wb.; Schles. Wb.; Preuß. Wb. (Z); Martin/Lienhart; Schweiz. Id.; Schwäb. Wb.; Bad. Wb.; Schmeller/F.; Öst. Wb.) auf Erfolg seines Mühens für die Epoche vom 14. bis zum 17. Jahrhundert zu hoffen.

2.4. Denn auch die varietätenbezogene (d. h. dialekt-, soziolekt-, gruppen- und textsortenbezogene) und die idiolektbezogene und einzeltextbezogene Lexikographie des Frühneuhochdeutschen existiert höchstens in zufälligen Ansätzen:

Altkölnischer Sprachschatz. Auf Grund archivalischer Quellenstoffe der Reichsstadt Köln vom 12. Jahrhundert bis 1815 als Wörterbuch bearbeitet und herausgegeben von Adam Wrede. Bonn 1928 ff.: ein alphabetisch geordnetes, sowohl synchrones wie diachrones, semasiologisches Wörterbuch des Kölnischen mit weitestgehend vorbildlicher Anlage. Leider ist es nur bis zum Lemma amächtig gediehen.

Historisches Wörterbuch der elsässischen Mundart. Mit besonderer Berücksichtigung der früh-neuhochdeutschen Periode. Aus dem Nachlasse v. Charles Schmidt. Straßburg 1901: ein alphabetisch geordnetes, wesentlich diachrones, semasiologisches Wörterbuch des Elsässischen mit gediegener Dokumentation des Frühneuhochdeutschen.

Jelinek, Franz, Mittelhochdeutsches Wörterbuch zu den deutschen Sprachdenkmälern Böhmens und der mährischen Städte Brünn, Iglau und Olmütz (XIII. bis XVI. Jahrhundert). Heidelberg 1911: ein alphabetisch geordnetes, synchrones, semasiologisches Wörterbuch mit ausgeprägter rechtssprachlicher Komponente, einer zeitlichen Bindung an die älteren Jahrhunderte des Frühneuhochdeutschen (und das Mittelhochdeutsche) und einer räumlichen Beschränkung auf Böhmen und Mähren.

Dalby, David, Lexicon of the Mediaeval German Hunt. A Lexicon of Middle High German Terms (1050–1500), associated with the Chase, Hunting with Bows, Falconry, Trapping, and Fowling. Berlin 1965: ein frühneuhochdeutsch-englisches, alphabetisch geordnetes, synchron konzipiertes, semasiologisches, gruppenbezogenes Wörterbuch trotz der weiten Zeitspanne (seit 1050) aus Überlieferungsgründen überwiegend zum frühneuhochdeutschen Jagdwortschatz.

Wiessner, Edmund, Der Wortschatz von Heinrich Wittenwilers Ring. Herausgegeben von Bruno Boesch. Bern 1970: ein alphabetisch geordnetes, synchrones, semasiologisches Wörterbuch zu einem osthochalemannischen Text der Jahre um 1400 bis 1408.

Das Mittelrheinische Passionsspiel der St. Galler Handschrift 919. Neu herausgegeben von Rudolf Schützeichel. Mit Beiträgen von Rolf Bergmann/ [für das Glossar:] Irmgard Frank/Hugo Stopp und einem vollständigen Faksimile. Tübingen 1978: ein alphabetisch geordnetes, synchrones, semasiologisches Wörterbuch zu einem mittelrheinischen Einzeltext der Zeit um 1335.

Schatz, Josef, Sprache und Wortschatz der Gedichte Oswalds von Wolkenstein. Wien/Leipzig 1930. (Akademie der Wissenschaften zu Wien. Phil.-hist. Klasse. Denkschriften 69, 2): ein alphabetisch geordnetes, synchrones, semasiologisches, auf die Textsorte ‚Gedicht‘ eines Autors der 1. Hälfte des 15. Jahrhunderts bezogenes Wörterbuch.

Dietz, Philipp, Wörterbuch zu Dr. Martin Luthers deutschen Schriften. Leipzig 1870–1872. [Neudruck Hildesheim 1973]: ein alphabetisch geordnetes, synchrones, semasiologisches Autorenwörterbuch, das nur bis zum Lemma Hals (1 Band, 1 Lieferung) fertiggestellt wurde.

2.5. Mit dieser Aufzählung ist die Reihe bereits erschöpft, wenn man nicht die allerdings große Anzahl von sogenannten Ausgabenglossaren1010. Näheres dazu unter 6.1.1., einige kleinere einzeltextbezogene Wörterbücher1111. Man könnte hier an Werke denken wie: Ernst Göpfert, Wörterbuch zum Kleinen Katechismus Dr. M. Luthers. Leipzig 1889. und die Indices und Konkordanzen mit in Anschlag bringen will. – Ausgabenglossare sind unterschiedlich umfangreiche, da äußerst divergierend selektierende, in einigen Fällen zu Vollständigkeit tendierende (und sich dann den oben genannten Wörterbüchern von Schützeichel, Wiessner, Schatz annähernde), in der Qualität stark schwankende Glossare zu einzelnen Texten oder Textgruppen. Eine große Anzahl ist bibliographisch im Quellenverzeichnis dieses Bandes erfaßt. – Indices und Konkordanzen erheben in der Regel Anspruch auf Vollständigkeit sowohl im Hinblick auf die verzeichneten Wörter wie auf die Belegstellen; sie bieten aber meist nur (nichtlemmatisierte) Schreibformen, selten morphologische oder sonstige Information und bringen nie Bedeutungserläuterungen. Ein großer Teil von ihnen ist im Quellenverzeichnis sowie bei Gärtner/Kühn 1984 erfaßt.

2.6. Welche erheblichen Lücken nicht nur in der gesamtsystembezogenen Lexikographie des Frühneuhochdeutschen bestehen, sei noch einmal explizit ausgesprochen: Es gibt kein einziges vollständiges dialekt- und soziolektbezogenes Wörterbuch, es gibt von Dalby abgesehen kein gruppenbezogenes, von den oben angegebenen Ausnahmen abgesehen keine textsorten-, einzeltext- und vor allem keine idiolektbezogenen Wörterbücher. Die lexikographische Beschreibung1212. Vgl. hierzu auch Wolf, Dieter, Lexikologie des Frühneuhochdeutschen. In: Sprachgeschichte 2, 1985, Art. 122. der späten Artusdichtung, der Ausläufer der Heldenepik, der Gattungen der Lyrik, der Prosaauflösungen mittelhochdeutscher Epen, der Erbauungsliteratur, der Lehrtexte von Mystik und Scholastik, der Agitationsliteratur, der entstehenden Fachliteraturen ist reine Zukunftsaufgabe; ebenso verhält es sich mit der Autorenlexikographie, die zum Beispiel weder zu Meister Eckhart, noch zu Sebastian Brant, Thomas Murner, Geiler von Kaisersberg, Ulrich Zwingli, Thomas Müntzer und nun schon seit mehr als einem Jahrhundert selbst zu Martin Luther nicht existiert.

2.7. Es entspricht diesem Bild, daß auch die zeitgenössische Glossographie und Lexikographie von Einzelleistungen wie derjenigen Diefenbachs abgesehen erst in den letzten Jahrzehnten Gegenstand wissenschaftlicher Beschreibung, darunter der Neuherausgabe geworden sind. Erwähnung in diesem Zusammenhang1313. Gemeint sind die Herausgabe der Synonyma Jakob Schöppers durch Karl Schulte-Kemminghausen, die Untersuchungen Grubmüllers zum Vocabularius ex quo sowie das zugehörige Forschungsprojekt, die von de Smet betreuten Ausgaben und die Bibliographie von F. Claes. Man vgl. zuletzt auch die Herausgabe von Schwartzenbachs Synonymen durch Ulrike Haß. verdienen Karl Schulte-Kemminghausen, Klaus Grubmüller, Gilbert de Smet, Franz Claes sowie Verlag und Herausgeber der Reihe Documenta Linguistica. Reihe I: Wörterbücher des 15. und 16. Jahrhunderts sowie Reihe II: Wörterbücher des 17. und 18. Jahrhunderts. Daß die Herausgabe von Wörterbüchern wie derjenigen von Dasypodius, Maaler, Henisch kein Ersatz für philologische Wörterbücher der Gegenwart ist, bedarf keiner Betonung.