tol,
Adj.
1.
›wahnsinnig, geisteskrank, geistesschwach; von Sinnen, durcheinander‹; substantiviert: ›Wahnsinn, Verrücktheit‹; offen zu 2; 3.
Syntagmen:
j. / etw. t. sein / werden
;
sich t. fasten, jn. t. machen, jn. als t. zum land ausleuchten
;
der tolle kopf / mensch, die tolle vernunft, das tolle haupt
;
die bescheidenheit zwischen das tolle
(subst.)
und das frute legen
; häufig als Doppelformel:
t. und töricht
.
Wortbildungen:
tolkraut
(vgl. auch
Marzell
5, 576
).

Belegblock:

Alberus, Barf. (
Wittenb.
,
1542
):
Als jn die Kinder auff der Gassen sahen das er [Franciscus] gieng wie ein Halluck vnd wie ein Suddeler / meineten sie er were toll / vnd wurffen mit dreck vnd steine nach jm.
Luther, WA (
1532
):
die Rottengeister und widderteuffer, Welche auch auffs newe aus jrem tollen kopff das hertzeleid anrichten.
Ebd. (
1530
/
2
):
solt man den nicht als toll und toͤricht zum land ausleuchten?
Ebd. (
1531
):
die gottlosen [...] machen ihnen tolle kopff mit den lausigen kappen.
Ebd. (
1538
/
40
):
do wirt allererst die vernunfft thol und thoricht druber, das Christus vom himel kommen und widerumb hinauff gefharen sej.
Ebd. (
1547
):
Hie ist kein Mensch so gering (der nicht toll vnd toͤricht ist), er helts dafuͤr, es sey billich vnd recht, das einem jedern das seine, entwand, widerstattet werde.
Fischer, Brun v. Schoneb. (
md.
, Hs.
um 1400
):
also sal di bescheidenheit | zwuschen zwen stucken sin geleit: | ich meine zwuschen obil und gut, | zwuschen daz dulle und daz vrut.
Meisen, Wierstr. Hist. Nuys
2553
(
Köln
1476
):
Der selff doll mynsch wart kortz dar nae | Vnuersyenlych erschossen dae.
Froning, Alsf. Passionssp.
6502
(
ohess.
,
1501ff.
):
want sie (ist) jamers alßo vol, | das sie von leyde ist krangk und doil.
Harms u. a., Alberus. Fabeln
131, 20
(
Frankf./M.
1550
):
Vnd spott des alten Ochssen sehr / | Als ob er toll vnd thoͤricht wer.
Kehrein, Kath. Gesangb. (
Nürnb.
1631
):
Die Juden schryen als weren sie toll, | Er mag jhm selber helffen wol.
Pfeiffer-Belli, Murner. Kl. Schrr.
6, 103, 10
(
Straßb.
1520
):
Du kanst [...] auch nit einem armen priester den du da teubst vnd mit filen reden dol machest vnd hirnwietig [...] ein pfennig [...] geben.
Golius (
Straßb.
1579
):
Solanum lethalr. Dollkraut.
Peil, Rollenhagen. Froschm.
630, 3867
;
Redlich, Jül.-Berg. Kirchenp.
2, 1, 597, 18
;
Lemmer, Amman/Sachs. Ständeb.
8, 7
;
v. Keller, Amadis ;
Anderson u. a., Flugschrr.
19, 3, 33
;
17, 31
;
Bell, G. Hager
155, 3, 2
;
Gilman, Agricola. Sprichw.
1, 378, 19
;
Kohler, Ickelsamer. Gram. ;
2.
›betrunken; unzurechnungsfähig, ausgelassen, närrisch (meist als Folge von Alkoholkonsum)‹; als Spezialisierung zu 1 auffassbar.
Bedeutungsverwandte:
; vgl. , , ,  1,
1
(Adj.), .
Syntagmen:
j. t. sein
;
etw
. (z. B.
most / wein
)
jn. t. machen
;
der tolle knecht / nar, die tolle weise
; oft als Doppelformel:
vol und t
.
Wortbildungen:
tollen
›närrisch dahinleben‹,
tollentrank
›berauschendes Getränk‹.

Belegblock:

Luther, WA (
1519
):
Ich will geschweygen großere stuck und sund, dar zu die dorff procession allererst doll worden seyn.
Ebd. (
1519
):
das ettlich yhre leyb drob zu broͤchen und doll koͤpff gemacht haben, das sie vormeynt, alßo mit gewalt der werck yhr sund abzulegen.
Peil, Rollenhagen. Froschm.
588, 2585
(
Magdeb.
1608
):
ZV Troja war auch alles Toll / | Des Weins / des schlaffs / odr beides vol / | Als die Griechen das Thor auffmachten.
Oorschot, Spee. Trvtz-N.
197, 29
(
wmd.
,
1634
):
Nur von doll, vnd vollen knechten | Voll war alles vberall, | Nur von jauchtzen, springen, fechten, | Thal vnd Vfer gaben schall.
Alberus
yy ijv
(
Frankf.
1540
):
das fest Bacchi begehen / voll vnd toll sein.
v. d. Broek, Suevus. Spieg.
182r, 29
(
Leipzig
1588
):
Einer / der jmmer Voll vnd Toll ist / vnd dem losen Wesen nachgehet / wird dich wenig zieren.
Stackmann u. a., Frauenlob
8, 24, 18
(Hs. ˹
nobd.
,
3. V. 15. Jh.
˺):
Waz sol dem blinden speher varbe diezen; | [...] | waz sol dem esel tollentranc; | [...]?
Franck, Decl.
352, 3
(
Nürnb.
1531
):
Dann alles was vol macht / das macht dol / vnd kert den standt des gemuͤts vmb.
Henisch f. (
Augsb.
1616
):
Des abends voll vnd toll, zu morgens siech vnd krank.
Stambaugh, Friederich. Saufft.
17, 9
;
Vgl. ferner s. v.  1.
3.
›wütend, rasend, aufgebracht‹; eng anschließbar an 1.
Fast ausschließlich nrddt. belegt.
Bedeutungsverwandte:
,  2,  3,  1, , , , ; vgl. .
Syntagmen:
j. t. sein / werden
;
j
. (z. B.
die bürger
)
t. grimmen
;
jn. t. machen
; häufig als Doppelformel:
t. und töricht
.
Wortbildungen:
tollerei
›Raserei‹.

Belegblock:

Schöpper (
Dortm.
1550
):
Demens. [...] rasend tobend [...] wuͤtend [...] toll [...] wuͤtig.
Lappenberg, Fleming. Ged. (
Lübeck
1636
):
Sie [...] redt und weiß dennoch nicht, was in der Tollerei sie gegen sich selbst spricht.
Holland, H. J. v. Braunschw. V. e. Weibe (
Wolfenb.
1593
):
Vnd wann du auch tol würdest, vnd dich in stücken zerrissest, So bistu doch ein dopperter Hanrey.
Chron. Magdeb. (
nrddt.
, Hs.
1601
):
sein dieselbigen losen buben [...] noch vieler toller und törichter geworden.
derwegen die gemeine burger itzund so gar toll und rumorisch grimmen und trotzen.
Luther, WA (
1530
):
alle die [...] morden, brennen, verfolgen, wuͤten, toll und toͤricht sein.
Ebd. (
1546
):
Vnd das macht auch itzt den Babst vnd die seine (so!) Toll vnd toricht.
DJe Papisten sind toll vnd vnsinnig wider vns vnd wollen jre Lere mit langen Spiessen vnd gewalt verfechten.
Vgl. ferner s. v.  5.
4.
›unvernünftig, töricht; unwissend, dumm‹.
Syntagmen:
j
. (z. B.
ein prediger
)
/ etw
. (z. B.
die welt
)
t. sein
;
j. t. sprechen, j
. (z. B.
got
)
jn. t. machen
;
der tolle lauer, die tolle unverständigkeit, das tolle wesen, die tollen fritzen / leute / tiere / zunftmeister
;
die tollen
(subst.).
Wortbildungen:
tolheit
(a. 1531),
tolkün
›verwegen‹ (dazu bdv.: ),
tolkünheit
(dazu bdv.: ),
tolkünlich
(dazu bdv.: ),
tölle
(›Dummheit‹; dazu bdv.: , ),
tolmütig
›übermütig, tollkühn‹.

Belegblock:

Luther, WA (
1544
):
Noch werden diese Tolen und Nerrin die ersten, den Christus seine Aufferstehung offenbaret.
Peil, Rollenhagen. Froschm.
572, 2093
(
Magdeb.
1608
):
Wie er [Gott] denn damit erstlich thut / | Das er sie macht so toll vnd blind / | Das sie des Friedens muͤde sind.
Kehrein, Kath. Gesangb. (
Köln
1619
):
Keiner solle sein so dolle, | Vnd jm selber bilden ein, | Daß er werde, hie auff Erde, | Dich zu loben meister sein.
Froning, Alsf. Passionssp.
4938
(
ohess.
,
1501ff.
):
Ich hon [...] gehort | [...] | das du bist von wysheyt bloyß! | das du bist doller dan eyn noß!
Kurz, Waldis. Esopus (
Frankf.
1557
):
Die Fabel vns diß stuͤck bedeut, | Was tolle, vnuerstendig Leut | Mit jren Kindischen anschlegen | Anheben, brengen nichts zu wegen.
Weil du der ding bist vnerfahrn, | Gar viel zu toll vnd jung von Jarn.
Schwartzenbach (
Frankf.
1564
):
Dumm. Vihisch. Vnverstendig. [...]Thoͤrecht. [...]. Eines dollen vngichtigen verstands.
Schade, Sat. u. Pasqu. (
obd.
, Druck
1525
):
Prediger seind toll, taub und unsinnig leut.
Sachs (
Nürnb.
1553
):
Grösser narren hab ich nie gsehen. | Recht thut man noch, daß man die bawren | Zu Fünsing nennt die thollen lawren.
Ebd. (
1564
):
Sprich auch nit also tholl und thumb.
Dietrich. Summaria
19v, 8
(
Nürnb.
1578
):
die Welt ist blind / toll vnd toͤricht.
Golius (
Straßb.
1579
):
Stupiditas, toͤlle / vnuerstand.
Goedeke, Fischart Flöh Haz
3942
(
Straßb.
1594
):
Das schlecks halb ir seid also wütig, | Und wagt euch in tod so dollmütig.
Maaler (
Zürich
1561
):
Toͤlle (die) Vnuerstendigkeit. Stupiditas, Inertia.
Dict. Germ.-Gall.-Lat.
120
(
Genf
1636
):
Dollkuͤn / Verwegen / [...] Dollkunheit / Vermessenheit / f. [...] Dollkuͤnlich / Vermeßlich.
v. d. Lee, M. v. Weida. Spigell
33, 29
;
Kurz, a. a. O. ; ; ;
Franck, Decl.
337, 20
;
Moscherosch. Ges. Phil. v. Sittew. ;
Vgl. ferner s. v.
2
 18.
5.
›schwach im Glauben, ungläubig; frevelhaft, gottlos‹; Spezialisierung zu 4.
Syntagmen
j. / etw
. (mehrfach:
die welt
)
t. sein
;
die tolle vernunft / welt, das tolle ding
; oft in der Doppelformel
t. und töricht, t. und unsinnig
.

Belegblock:

Alberus, Barf. Vorr. Alb. (
Wittenb.
,
1542
):
Buͤcher [...] darin solch Erschreckliche Gotteslesterung stehen / dergleichen vnser keiner nie zuuor gehoͤret [...] das jemand solch toll vnsinnig / vnd Leichtfertig ding erdencken noch gleuben solt.
Luther, WA (
1531
):
Und solt sie [die welt] toll und toͤricht werden, so sol sie [...] druͤber jnn der hellen grund fallen.
Ebd. (
1541
/
2
):
Noch ist die Welt Toll vnd vnsynnig, achtet dieses Buchs
[Bibel]
nichts.
v. d. Broek, Suevus. Spieg.
215v, 36
(
Leipzig
1588
):
Damit wird verworffen das blinde Gluͤck / darauff die tolle Welt hoffet vnd gaffet / vnd wird dargegen gezeiget auff die herrlichen Guͤter vnd Gaben [...] mit welchem Gott seine Gleubigen Reich vnd Selig macht.
Tittmann, Schausp. 16. Jh. Funk.
179, 184
(
Bern
1551
):
dwelt ist so törecht und so dol, | wann du [Satan] dich sligst, so trügst sie wol.
Trunz, Meyfart. Tub. Nov.
15, 23
.
Vgl. ferner s. v.  3.
6.
›tollwütig‹.
Bedeutungsverwandte:
vgl.  2,  7.

Belegblock:

Roloff, Naogeorg/Tyrolff. Pamm.
451, 4473
(
Zwickau
um 1540
):
Ich wil wer diser Leer anhengig ist / | Das er geachtet werd zu diser frist / | Nicht anders denn obs wer ein toller Hundt.
7.
›großartig, prächtig‹ (auch ironisch).

Belegblock:

Alberus, Barf. Vorr. Alb. (
Wittenb.
,
1542
):
Sie sind aber ja so Verstockt als Juͤden vnd Tuͤrcken / Vnd gedencken jren tollen Franciscum mit nicht zu verlassen / Denn sie haben jn so hoch / nemlich / an Lucifers Stat / gesetzt.
Kurz, Waldis. Esopus (
Frankf.
1557
):
Als ein Saw sah ein schoͤnes Roß, | [...] | Sprach sie: ,du armes tolles Thier, | [...] | Was hilfft dich denn dein grosser pracht?‘
8.
›sehr, außerordentlich; gänzlich‹; auch als Gradadv.

Belegblock:

Meisen, Wierstr. Hist. Nuys
2546
(
Köln
1476
):
Zo Nuyssz qwam ouch dyessz zijt bynnen | Eyn engelsch man, doll van synnen.
Opitz. Poeterey
24, 3
(
Breslau
1624
):
Jener mag der heller schonen / | Der bey seinem Gold vnd Schaͤtzen | Tolle sich zue krencken pflegt | Vnd nicht satt zue bette legt.
Haszler, Kiechels Reisen (
schwäb.
,
n. 1589
):
düe janitschar [...] süch manügmahl so doll voll ansaufen, das süe wöder stöhn noch gehn könden.