1
gier,
die
;
-Ø/–
.
1.
›Verlangen, Wunsch nach etw. (z. B. nach den Dingen des Alltags, mehrfach: nach Ideellem)‹; als Metonymie: ›Ziel des Verlangens‹.
Gehäuft Verstexte.
Phraseme:
nach / in des, in js. herzen gier
›nach [js.] Wunsch‹.
Bedeutungsverwandte:
vgl.  2, (
der/das
1, , (
die
),  1, (
der
3, , (
das
),  1,  1,  2, .
Syntagmen:
die g. schweigen, g.
(
zu etw
., z. B.
zu sælde / warheit, treuen
)
haben
;
js. g. auf sterben stehen
;
die schöne
›Schönheit‹
der welt g. sein
;
jn. mit g. bitten, nach js. g. etw. tun, jm. nach seiner g. etw. geben
; ˹
g. des heiligen vaters
˺
, des herzen g.
(gen. subjectivus),
flüchte g.
(gen. objectivus);
die andächtige / ganze / grosse / manliche / mütterliche g
.;
das wasser der g
.

Belegblock:

Kurz, Waldis. Esopus (
Frankf.
1557
):
Apollo merckt seins hertzen gir, | Vnd sprach: „sein leben steht bey dir“.
Weil euch zun dingen ist so gach, | Vnd ich ewr gir damit mag schweigen, | So wil ich euch denselben [Teuffel] zeigen.
Jahr, H. v. Mügeln
1510
(
omd.
, Hs.
1463
):
das sie [underseßen] beschouwen sich in dir: | zu warheit hab din rede gir.
Ebd.
2090
:
darum, ir fürsten, folget mir, | ab ir zu salden habet gir.
Barack, Teufels Netz (
Bodenseegeb.
,
1. H. 15. Jh.
):
Maister gend mir | Ain armbrost nach miner gir | Von starkem und wildem horn.
Koppitz, Trojanerkr. (Hs. ˹
noschweiz.
,
15. Jh.
˺):
Daz üwer aller manlich gir | So sere uff ünser sterben statt, | Daz ist ain unselliger ratt.
Adrian, Saelden Hort
8590
(
alem.
, Hss.
E. 14.
/
15. Jh.
):
daz lebent wasser diner gir | het er vil milteclich gegeben.
Sappler, H. Kaufringer
29, 36
(
schwäb.
, Hs.
1472
):
die schön ist aller welt gir. | gott sie selber hat gemacht
(hier metonymisch).
Pfeiffer, K. v. Megenberg. B. d. Nat. (
oobd.
,
1349
/
50
):
Aristotiles spricht, daz kain tier sô vil gir hab sam der mensch.
Spechtler, Mönch v. Salzb.
5, 40
(
oobd.
,
3. Dr. 14. Jh.
):
Maidleich stainwant, nam in dir pelikanus same, | ainhurnes sin in flüchte gir
[›Zuflucht begehrend‹] |
todes fraise.
Helm, Maccabäer ;
Schützeichel, Mrhein. Passionssp.
412
;
Gille u. a., M. Beheim
68, 10
;
Mayer, Folz. Meisterl. ;
Adrian, a. a. O.
292
;
Koppitz, a. a. O. ;
Sappler, a. a. O.
5, 513
;
Pfeiffer, a. a. O. ;
Kummer, Erlauer Sp. .
Vgl. ferner s. v. , ,  4,  2.
2.
›sehnsüchtiges erotisches Verlangen bis hin zu triebhaftem, sexuellem Begehren des erwachsenen Menschen beider Geschlechter‹; auch: ›der
minne
verglichene Anlage alles Seienden zu innerer Beziehung‹; Wertungsskala von ,positiv‘ über ,neutral‘ bis zu ,negativ‘ hin, in letzterem Falle offen zu 3; als Metonymie: ›Ziel des Begehrens‹.
Älteres bis mittleres Frnhd.; meist Verstexte, oft didaktischer Intention.
Bedeutungsverwandte:
vgl.  1, ,  2,  3.
Syntagmen:
g. e. S
. (Gen., der
minne
)
haben, an jm. seine g. volfüren
;
die g. stehen
›darauf gerichtet sein‹,
wie [...]
;
der g
. (Dat.)
lieben
;
etw. nach js. g. tun, jn. nach (des herzen) g. zu im
(refl.)
laden, jm. mit g. dienen, sich jm. mit g. zu eigen geben
;
die g. des herzen
(gen. subjectivus),
die g. der unkeusche
(gen. objectivus);
die ganze / rechte g
.

Belegblock:

Helm, H. v. Hesler. Apok. (
nrddt.
,
14. Jh.
):
Unkust, hinderkos, bose list, | Kundekeit, dar zu ober mut, | Sme, vinder des das nicht ist gut, | Torecht, unhuebesch, sunder gir.
Tittmann, Schausp. 16. Jh. Rebh.
55, 70
(
Zwickau
1536
):
das glaubet mir, | so ir [frau] itz tut nach unser gir.
Pyritz, Minneburg
5324
(
nobd.
, Hs.
um 1400
):
Hertze, hulffe ez iht, ich wolt mit gir | Mich dir mit im zu eigen geben.
Stackmann u. a., Frauenlob
4, 1, 10
(Hs. ˹
nobd.
,
3. V. 15. Jh.
˺):
Wurm, vogel, visch, tier, | wurz unde crut, stein unde holz, die han ir
[nach
Minne
]
gir.
Goedeke u. a., Liederb. (
Nürnb.
1539
):
in steter treu und ganzer gir | bin ich bereit, zu dienen dir.
Wiessner, Wittenw. Ring
6340
(
ohalem.
,
1400
/
08
):
,Wem füegt sei bas?‘ | ,Anders niempt dann mir; | Sei ist meins hertzen gir‘.
Sappler, H. Kaufringer
14, 227
(
schwäb.
, Hs.
1464
):
dann das ir ietzo ewer gir | alspald vollfüeren wolt an mir.
Pfeiffer, K. v. Megenberg. B. d. Nat. (
oobd.
,
1349
/
50
):
er [senif] pringt auch die gir der unkäusch.
Klein, Oswald
56, 45
(
oobd.
,
1417
/
18
?):
von rechter gier | ist mir als dir | in grosser freuden zier.
Pyritz, a. a. O.
4408
;
Sappler, a. a. O.
4, 237
;
9, 11
.
3.
›gegen Moral, Ordnung, Recht gerichtetes böses Verlangen‹; im einzelnen: ›Machtgier, Macht-, Gewaltanmaßung‹; ›Gier nach hoffärtiger Heraushebung der eigenen Person‹; ›Besitzgier, Habgier‹; ›Gier nach Teilhabe an Luxus, an
üppigkeit
‹; jeweils mit negativer Wertung.
Meist Verstexte der Sinnwelt ,Religion / Didaxe‘.
Bedeutungsverwandte:
, , ; vgl.  5, .
Wortbildungen:
gierkeit
.

Belegblock:

Helm, Maccabäer (
omd.
/
nrddt.
, Hs.
A. 15. Jh.
):
Des tun wir niht, | daz wir dem kunge horen iht | sines wortes nach siner gir.
Niht wil ich nach des kunges gir | sunder nach der e gebote, | die Moyses gab von gote.
Stackmann u. a., Frauenlob
8, 14, 19
nobd.
,
3. V. 15. Jh.
˺):
von ir ungeberden, | die sie [pfaffen] nu triben um daz gut | in gires glut
(zum Genitiv s. die Ausgabe, Kommentar zur Stelle).
Adrian, Saelden Hort
8684
(
alem.
, Hss.
E. 14.
/
15. Jh.
):
von demuͦt zihet och die gir, | in hohvart swellet si den muͦt.
Sappler, H. Kaufringer
13, 322
(
schwäb.
, Hs.
1464
):
nach dem pütel stet mein [pfaff] gir.
Niewöhner, Teichner
590, 68
(Hs. ˹
önalem.
,
um 1433
˺):
waz ich jag, dez bin ich gerent, | aber wenn ichz gevangen han, | so istz haͤblich girkait an. | da verstett duͤ warhait by | das kain gir im himel sy.
Hohmann, H. v. Langenstein. Quästio
205, 66
(
moobd.
,
1. H. 15. Jh.
):
Als dy angesicht vnczimleicher ding, von den pöz gedênkchen chömen mügen vnd pösew gier; als tanczen, stëchen [...], do man siecht v̈ppichait.
4.
›Entschlossenheit, Eifer, Nachdruck, mit dem man etw. tut‹.
Bedeutungsverwandte:
vgl.  3, (
das
1,  4.

Belegblock:

Kehrein, Kath. Gesangb. (
Köln
1582
):
Doch jener leiden wirt sich mehren, | Die sich zuͦ fremden goͤtzen keren, | Vnd den nacheilen gantzer gir.
Schade, Sat. u. Pasqu. (
obd.
1524
):
Allerheiligster vater, wir haben betracht und mit hoher gir und hoher erfreuung zuͦ herzen genomen die wolbedachten hochweisen unvernünftigen räth.
Gille u. a., M. Beheim
127, 72
(
nobd.
,
2. H. 15. Jh.
):
Aber in der weis mägen wir | unsern nehsten mit aller gir | wal lieb haben all stunde.
Ebd.
267, 110
:
zu ir ich mich wend und auch schiebe | als der teufel zum creucz in solcher gir
(Spottlob der ,Liebsten‘).
Chron. Augsb. (
schwäb.
,
1532
):
Man fieng Thamar und fürt sie für, | Sprach zu irem schweher mit gir: | Nun rat, wer hat geschwängert mich?
Klein, Oswald
114, 70
(
oobd.
,
1436
):
in seim [himel fürste] ellend was si [muter] behend, | von rechter gier im hilflich schier.
Turmair (
moobd.
,
1522
/
33
):
pis den Teutschen die erst gir vergieng oder als es die Römischen nennen, die unsinnikait und tobung.
Kehrein, a. a. O. ;
Wiessner, Wittenw. Ring
8860
.
5.
steht mit vorangestelltem Genitiv für den Inhalt des Genitivausdrucks, z. B.
durch der spise gier
›um der Speise willen‹.
Älteres Frnhd.; Verstexte der Sinnwelt ,Religion / Didaxe‘.

Belegblock:

Gerhard, Hist. alde e
260
(
omd.
,
um 1340
):
Daz er schizen phlag di tir, | Doch nicht durch der spise gir.
Pyritz, Minneburg
3206
(
nobd.
, Hs.
um 1400
):
On anen ist der sin niht mir; | Mich anet zwor in hoffens gir | Wie mich noch trosten sulle gehuͤre, | Minne.
Primisser, Suchenwirt (
oobd.
,
2. H. 14. Jh.
):
Mein sin der ist auch hegehaft, | Ze suchen spœcher funde gir
[›scharfsinnige Einfälle‹].
Ob du im sein mit willen ganst, | Ja wol mit gantzes vleizzes gir.
Klein, Oswald
13, 13
(
oobd.
,
1416
?):
da von wir sein getrösst, erlösst | von scharpfer helle gier.
6.
steht in Verbindung mit vorangestelltem Adjektivattribut für den Inhalt des Adjektivs, z. B.
mit böser gier
›mit Bosheit‹.
Älteres bis mittleres Frnhd.; Verstexte.

Belegblock:

Feudel, Evangelistar V.
25
(
omd.
,
M. 14. Jh.
):
czu en [Juden] sprach her [Judas] mit bosir gir; | ,waz gebit uwir meysterschaft mir | daz ich uch Jhesum vormache?‘
Ebd. V.
528
:
Johannes noch trostlicher gir | sprach czu der reynen | [...].
Asmussen, Buch d. 7 Grade
1725
(
nobd.
, Hs.
A. 15. Jh.
):
aber in senlicher gir | sprichet er: ,Wolt ir von mir | so wil ich doch alle eure weg | mit dornen pesen‘.
Koppitz, Trojanerkr. (Hs. ˹
noschweiz.
,
15. Jh.
˺):
Du wenest gar uss törscher gir | Daz ich in wiche die an mir | Beliben vil stätte.