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gier,die
;-Ø/–
.1.
›Verlangen, Wunsch nach etw. (z. B. nach den Dingen des Alltags, mehrfach: nach Ideellem)‹; als Metonymie: ›Ziel des Verlangens‹.Gehäuft Verstexte.
Phraseme:
nach / in des, in js. herzen gier
›nach [js.] Wunsch‹.Syntagmen:
die g. schweigen, g.
(zu etw
., z. B. zu sælde / warheit, treuen
) haben
; js. g. auf sterben stehen
; die schöne
›Schönheit‹ der welt g. sein
; jn. mit g. bitten, nach js. g. etw. tun, jm. nach seiner g. etw. geben
; ˹g. des heiligen vaters
˺, des herzen g.
(gen. subjectivus), flüchte g.
(gen. objectivus); die andächtige / ganze / grosse / manliche / mütterliche g
.; das wasser der g
.Belegblock:
Apollo merckt seins hertzen gir, | Vnd sprach: „sein leben steht bey dir“.
Weil euch zun dingen ist so gach, | Vnd ich ewr gir damit mag schweigen, | So wil ich euch denselben [Teuffel] zeigen.
das sie [underseßen] beschouwen sich in dir: | zu warheit hab din rede gir.
Ebd.
2090
: darum, ir fürsten, folget mir, | ab ir zu salden habet gir.
Maister gend mir | Ain armbrost nach miner gir | Von starkem und wildem horn.
Daz üwer aller manlich gir | So sere uff ünser sterben statt, | Daz ist ain unselliger ratt.
daz lebent wasser diner gir | het er vil milteclich gegeben.
die schön ist aller welt gir. | gott sie selber hat gemacht
(hier metonymisch).
Aristotiles spricht, daz kain tier sô vil gir hab sam der mensch.
Maidleich stainwant, nam in dir pelikanus same, | ainhurnes sin in flüchte gir
[›Zuflucht begehrend‹] |
todes fraise. Schützeichel, Mrhein. Passionssp.
412
; Gille u. a., M. Beheim
68, 10
; Adrian, a. a. O.
292
; Sappler, a. a. O.
5, 513
; 2.
›sehnsüchtiges erotisches Verlangen bis hin zu triebhaftem, sexuellem Begehren des erwachsenen Menschen beider Geschlechter‹; auch: ›der minne
verglichene Anlage alles Seienden zu innerer Beziehung‹; Wertungsskala von ,positiv‘ über ,neutral‘ bis zu ,negativ‘ hin, in letzterem Falle offen zu 3; als Metonymie: ›Ziel des Begehrens‹.Älteres bis mittleres Frnhd.; meist Verstexte, oft didaktischer Intention.
Syntagmen:
g. e. S
. (Gen., der minne
) haben, an jm. seine g. volfüren
; die g. stehen
›darauf gerichtet sein‹, wie [...]
; der g
. (Dat.) lieben
; etw. nach js. g. tun, jn. nach (des herzen) g. zu im
(refl.) laden, jm. mit g. dienen, sich jm. mit g. zu eigen geben
; die g. des herzen
(gen. subjectivus), die g. der unkeusche
(gen. objectivus); die ganze / rechte g
.Belegblock:
Unkust, hinderkos, bose list, | Kundekeit, dar zu ober mut, | Sme, vinder des das nicht ist gut, | Torecht, unhuebesch, sunder gir.
das glaubet mir, | so ir [frau] itz tut nach unser gir.
Hertze, hulffe ez iht, ich wolt mit gir | Mich dir mit im zu eigen geben.
Wurm, vogel, visch, tier, | wurz unde crut, stein unde holz, die han ir
[nach
Minne]
gir. in steter treu und ganzer gir | bin ich bereit, zu dienen dir.
,Wem füegt sei bas?‘ | ,Anders niempt dann mir; | Sei ist meins hertzen gir‘.
dann das ir ietzo ewer gir | alspald vollfüeren wolt an mir.
er [senif] pringt auch die gir der unkäusch.
von rechter gier | ist mir als dir | in grosser freuden zier.
3.
›gegen Moral, Ordnung, Recht gerichtetes böses Verlangen‹; im einzelnen: ›Machtgier, Macht-, Gewaltanmaßung‹; ›Gier nach hoffärtiger Heraushebung der eigenen Person‹; ›Besitzgier, Habgier‹; ›Gier nach Teilhabe an Luxus, an üppigkeit
‹; jeweils mit negativer Wertung.Meist Verstexte der Sinnwelt ,Religion / Didaxe‘.
Wortbildungen:
gierkeit
Belegblock:
Des tun wir niht, | daz wir dem kunge horen iht | sines wortes nach siner gir.
von ir ungeberden, | die sie [pfaffen] nu triben um daz gut | in gires glut
(zum Genitiv s. die Ausgabe, Kommentar zur Stelle).
von demuͦt zihet och die gir, | in hohvart swellet si den muͦt.
nach dem pütel stet mein [pfaff] gir.
waz ich jag, dez bin ich gerent, | aber wenn ichz gevangen han, | so istz haͤblich girkait an. | da verstett duͤ warhait by | das kain gir im himel sy.
Als dy angesicht vnczimleicher ding, von den pöz gedênkchen chömen mügen vnd pösew gier; als tanczen, stëchen [...], do man siecht v̈ppichait.
4.
›Entschlossenheit, Eifer, Nachdruck, mit dem man etw. tut‹.Belegblock:
Doch jener leiden wirt sich mehren, | Die sich zuͦ fremden goͤtzen keren, | Vnd den nacheilen gantzer gir.
Allerheiligster vater, wir haben betracht und mit hoher gir und hoher erfreuung zuͦ herzen genomen die wolbedachten hochweisen unvernünftigen räth.
Aber in der weis mägen wir | unsern nehsten mit aller gir | wal lieb haben all stunde.
Ebd.
267, 110
: zu ir ich mich wend und auch schiebe | als der teufel zum creucz in solcher gir
(Spottlob der ,Liebsten‘).
Man fieng Thamar und fürt sie für, | Sprach zu irem schweher mit gir: | Nun rat, wer hat geschwängert mich?
in seim [himel fürste] ellend was si [muter] behend, | von rechter gier im hilflich schier.
5.
steht mit vorangestelltem Genitiv für den Inhalt des Genitivausdrucks, z. B. durch der spise gier
›um der Speise willen‹.Älteres Frnhd.; Verstexte der Sinnwelt ,Religion / Didaxe‘.
Belegblock:
Daz er schizen phlag di tir, | Doch nicht durch der spise gir.
On anen ist der sin niht mir; | Mich anet zwor in hoffens gir | Wie mich noch trosten sulle gehuͤre, | Minne.
Mein sin der ist auch hegehaft, | Ze suchen spœcher funde gir
[›scharfsinnige Einfälle‹].
da von wir sein getrösst, erlösst | von scharpfer helle gier.
6.
steht in Verbindung mit vorangestelltem Adjektivattribut für den Inhalt des Adjektivs, z. B. mit böser gier
›mit Bosheit‹.Älteres bis mittleres Frnhd.; Verstexte.
Belegblock:
czu en [Juden] sprach her [Judas] mit bosir gir; | ,waz gebit uwir meysterschaft mir | daz ich uch Jhesum vormache?‘
Ebd. V.
528
: Johannes noch trostlicher gir | sprach czu der reynen | [...].
aber in senlicher gir | sprichet er: ,Wolt ir von mir | so wil ich doch alle eure weg | mit dornen pesen‘.